Der eiskalte Himmel - Roman
Ennid ein rotes Kleid anhat und hinter dem Tresen einfach aus dem roten in den blauen Bereich hinüberhinkt. Shackleton, der ein bestimmtes Buch sucht, wäre damit allerdings kaum geholfen. Die Bücher nach GröÃe oder Farbe zu sortieren würde bedeuten, dass er sich das Aussehen von einem jeden einprägen und ständig parat haben müsste, welche Farbe beispielsweise dieser zweibändige Schinken »Voyage autour du monde« eines gewissen Louis-Antoine de Bougainville hat, nämlich ein ziemlich abgegrabbeltes Schwarz. Ebenso müsste er sich merken, dass das schmalste Buch in seiner Sammlung eines von Fridtjof Nansen ist, »Auf Schneeschuhen übers Gebirge. Von Bergen nach Kristiania«. Und es würde bedeuten, dass ich Nansen leider von Nansen trennen müsste, denn das andere Buch von ihm, das Shackleton besitzt, »In Nacht und Eis. Die norwegische Polarexpedition 1893â1896«, zählt eindeutig zu den dicksten Bänden und müsste somit am anderen Regalende zu stehen kommen. Kann das der Sinn der Sache sein?
Wenn der furchtbare Lärm der in den Riggbunker krachenden Kohle einmal nachlässt, hört man die Schreie der Vögel, die über der Bucht kreisen. Die Russen, die ihre Schubkarren über eine Planke an Bord rollen, werden nicht müde zu lachen. Einen Augenblick lang wünsche ich mir, mit einem von ihnen tauschen zu können. Aber dann sage ich mir, dass während für mich der erste Schritt der schwerste ist, für diese Jungs oben an Deck alle Schritte gleich schwer sind. Ich stelle mich in das durch die Kajütfenster fallende Licht und schlage das dünne Nansen-Bändchen auf.
Da steht: »Endlich hatte ich das Schlimmste überwunden. Puh, war das heiÃ! Das griff Arme und Beine an, und die Sonne briet. Ich empfand brennenden Durst, und der Schnee labte wenig. Vor Freude darüber, so weit gekommen zu sein, holte ich die Apfelsine hervor, die ich solange aufgespart hatte. Sie war gefroren und hart wie eine Kokosnuss. Ich aà sie ganz, Schale und Fleisch; mit Schnee gemischt war sie eine gute Erfrischung.«
Nachdem ich sämtliche Bücher aus den Kisten und Kartons geholt und vor Shackletons Pult aufgestapelt habe, bin ich wild entschlossen, die Sache anders anzugehen. Ich werde, sage ich mir, die Bücher nach ihrer Entstehungszeit ordnen, oder besser nach der jeweiligen Zeit, von der die einzelnen Bände handeln. Denn es fällt auf, dass auf fast jedem Buchrücken nach dem Titel zwei Jahreszahlen vermerkt sind, eine für den Beginn und eine für das Ende der Reise, die der Bericht schildert.
Merce, das musst du überprüfen. Bücher mit Jahreszahlen im Titel kommen auf einen, solche ohne auf einen anderen Stapel. Auf den ersten lege ich den dicken Nansen, auf den zweiten den dünnen. Auf den ersten kommt F.A. Cooks »Die erste Südpolarnacht: 1898â1899. Bericht über die Entdeckungsreise der BELGICA in der Südpolarregion«, auf den zweiten dagegen »Umständlicher Bericht des Arthur Gordon Pym von Nantucket« von Edgar Allan Poe sowie »Die fliegenden Menschen oder Wunderbare Begebenheiten Peter Wilkinsâ, darunter sein Schiffbruch am Südpol«, ein Buch, das, wie auf der ersten Seite zu lesen ist, Robert Paltock im Jahr 1784 geschrieben hat. Was mich auf eine weitere Idee bringt. Ich nehme ein Buch von denen ohne Jahresziffern und schaue nach, ob auch das ein Erscheinungsjahr aufweist: Alexander Dalrymple, »Historische Sammlung der verschiedenen Reisen nach der Südsee und der daselbst gemachten Entdeckungen«. Gleich auf der ersten Seite werde ich fündig: London 1770. Und um ganz sicher zu gehen, dass sich jedes der Bücher zeitlich einordnen lässt, greife ich mir noch mal den Poe: »Umständlicher Bericht des Arthur Gordon« und so weiter. Vorne drin keine Jahreszahl. Aber hinten, versteckt auf der letzten Seite und ganz winzig, steht es: New York, 1838.
Von seinem eigenen ehemaligen Boss und späteren Widersacher liegen zwei Bücher in Shackletons Kisten: »Robert Falcon Scott: Die Reise der DISCOVERY 1901â1904« und dasjenige, das auch mein Bruder besitzt und mir abends immer vorlas: »Letzte Fahrt. Scotts Tagebücher 1910â1912«. Ich weià sofort, wo ich suchen muss, denn der Eintrag, in dem Scott das Ende von Titus Oates beschreibt, ist einer der letzten, bevor er selbst Abschied von der Welt nimmt: »Sollte dieses
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