Der eiskalte Himmel - Roman
mein Tagebuch gefunden werden, so bitte ich um die Bekanntgabe folgender Tatsachen: Oatesâ letzte Gedanken galten seiner Mutter; unmittelbar vorher sprach er mit Stolz davon, dass sein Regiment sich über den Mut freuen werde, mit dem er dem Tod entgegengehe. Wir drei können seine Tapferkeit bezeugen. Wochenlang hat er unaussprechliche Schmerzen klaglos ertragen und war tätig und hilfsbereit bis zum letzten Augenblick. Bis zum Schluss hat er die Hoffnung nicht aufgegeben â nicht aufgeben wollen. Er war eine tapfere Seele, und dies war sein Ende: Er schlief die vorletzte Nacht in der Hoffnung, nicht wieder zu erwachen; aber er erwachte doch am Morgen â gestern! DrauÃen tobte ein Orkan. âºIch will einmal hinausgehenâ¹, sagte er, âºund bleibe vielleicht eine Weile drauÃen.â¹ Dann ging er in den Orkan hinaus-â und wir haben ihn nicht wiedergesehen. Wir wussten, dass der arme Oates in seinen Tod hinausging, wir versuchten auch, es ihm auszureden, aber er handelte als Held und als englischer Gentleman. Wir drei übrigen hoffen, unserm Ende mit ähnlichem Mut entgegenzugehen, und dieses Ende ist sicherlich nicht mehr weit.«
Es ist das erste Mal, dass ich das selbst lese, und wie damals, als ich im Bett liegend Dafydd zuhörte, läuft es mir kalt den Rücken dabei hinunter. Ich sehe wieder das Innere des winzigen Zeltes vor mir, in dem in ihren gefrorenen Schlafsäcken die drei Männer kauern, abgezehrt, vor Durst und Hunger halb besinnungslos und unfähig, ein verständliches Wort herauszubringen, weil die Zunge im Mund so dick geschwollen ist. Scott, Bowers und Wilson hören nichts als das endlose ohrenbetäubende Heulen des Sturms, der an dem Zelt zerrt und wieder und wieder gegen dieses einzige Hindernis im Umkreis von Hunderten von Kilometern anrennt. Und Käptân Scott hat einen Bleistiftstummel und schreibt. Kritzelt etwas wie: »handelte als Held und als englischer Gentleman«. Unfassbar. Als würde man sich vor dem brüllenden Rachen, der einen gleich verschlucken wird, die Krawatte binden. Dafydd fand immer, dieser Todesmut sei an Tapferkeit nicht zu übertrumpfen. Für mich dagegen â und das ist es, was mir Schauder über den Rücken jagt â schreibt da ein Toter, einer, der mit allem abgeschlossen hat, auch mit der Tapferkeit.
Ich lege das Tagebuch auf den Stapel. Vier Türme sind entstanden: ein Stapel aus den 20 Bänden der Encyclopædia Britannica, einer aus Büchern mit Jahreszahlen im Titel, einer aus solchen nur mit Erscheinungsjahr und schlieÃlich einer aus fünf Büchern, die weder das eine noch das andere aufweisen und die, soweit ich sehen kann, allesamt Geschichtsbücher sind, Bücher, die davon handeln, welche Vorstellungen Ptolemäus und die anderen alten Griechen und Römer von der Antarktis hatten. Ich muss immer noch an Scott denken. Indem ich Shackletons Kisten leer räume und seine Bücher hierhin und dorthin sortiere, spukt mir plötzlich wieder der Satz im Kopf herum, der, als Dafydd ihn vorlas, mir so zusetzte, dass ich heulen musste, sobald wir das Licht ausgemacht hatten und ich unter meiner Decke allein war: »Also schön, mein Lebenstraum â leb wohl!«, schrieb Scott nämlich am Morgen vor der Rückkehr vom Pol. Nein, der Satz lautet anders. Ich suche das Buch noch mal heraus. Und da steht es: »Wohlan! Traum meiner Tage â leb wohl!«
Unter den letzten Büchern, die ich aus der Holzkiste herausfische, ist schlieÃlich auch das Buch, das Shackleton erwähnte. Es ist grün und abgestoÃen, und es hat Jahreszahlen im Titel: »Entdeckungsreise nach dem Süd-Polar-Meere in den Jahren 1839â1843«. Von Sir James Clark Ross. Die übrigen sind in dünnes weiÃes Papier eingeschlagene Drillinge: drei Exemplare von Shackletons eigenem Buch »Das Herz der Antarktis. 21 Meilen vom Südpol. Die Geschichte der britischen Südpol-Expedition 1907â1909«. Zahlreiche Abbildungen sind darin, Zeichnungen, die sanft und zugleich grimmig wirken, genauso wie ihr Schöpfer George Marston, mit dem ich heute Morgen noch gefrühstückt habe! Es gibt Porträts von Shackleton im Pullover vor einer weiten Eisfläche, eines heiÃt »Die NIMROD vor Tafeleisbergen vertäut«, ein anderes zeigt ein Grammophon, das vor einer Gruppe neugierig die Hälse reckender Pinguine im Schnee
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