Der eiskalte Himmel - Roman
tue, sagt er: »Hm. Was meinst du, Merce?«
Vertrackte Sache. Ganz gleich, was ich sage, sie werden meinen, ich verrate, wie ich selbst es mit dem Kleiderwechseln halte. Dass wir so gut wie keine Möglichkeit dazu haben, ist uns allen dreien klar. Und ebenso, dass diese Unterhaltung auf einen bestimmten Punkt zusteuert. Also raus damit! Kerr und Rickenson sehen mich an. So müde wirken sie gar nicht mehr.
Ich gebe zu, dass ich Rickensons MaÃnahme für erfindungsreich halte, und die zwei nicken. Ich sage, nicht Mäntel, Jacken, Hosen, naja, und eigentlich nicht mal Socken seien ja wohl das Problem. Nicken.
»Wo es schwierig wird, tja, und da muss man sich halt für das eine oder andere entscheiden, das ist, so wie ich es sehe, verbessert mich, wenn ich falschliege, die Unterwäsche.«
Kerr: »Völlig richtig.«
Und Rickenson: »Gut. Reden wir drüber.«
Und ich ⦠huste, weil ich die Nacht sowieso verloren gebe.
»Okay. Wer fängt an?«
51°17â westliche Länge, 68°43â südliche Breite, Lotung 1800-m über Grund, Drift bei drei Knoten: 185. Tag im Eis. So lautet Worsleys Eintrag ins Logbuch vom 26. Juli, dem Tag, als mittags für eine gute Minute zum ersten Mal die Sonne über den Horizont blinzelt. Der Orkan ist abgeflaut und nur mehr ein heimtückischer, flach übers Eis dreschender Sturm aus Südost: In einigen hundert Kilometer Entfernung, so unsichtbar wie unerreichbar und dennoch mit Sicherheit dort, wo Biscoe sie gesehen hat, liegt die Antarktische Halbinsel. Langsam, aber stetig schrammen wir an ihrer Ostflanke entlang nordwärts.
»Stell dir vor, wir stehen am Strand von Sizilien«, sagt Bob Clark im Schneetreiben an der Reling zu mir, wo ich die herrliche frische Luft kaue.
»Ja, gut. Hab ich.«
»Fein. Dann stell dir vor, da drüben liegt Ãgypten, bloà dass es hier Larsen-Schelfeis heiÃt.«
Ich bin nicht der Einzige, dem das nautische Rüstzeug dazu fehlt, um sich ein lebendiges Bild vom Verlauf unserer Odyssee zu machen. Einige studieren den Kartenteil der Enzyklopädie, andere, die noch vor Wochen dabei weggenickt wären, lauschen mehr oder weniger gespannt einem Diavortrag, den Worsley und Greenstreet eines Abends im Ritz halten. Damit auch der Rest der Mannschaft auf dem Laufenden bleibt, gibt Shackleton bei einem spartenübergreifenden Team die antarktische Uhr in Auftrag, die Geologe Wordie, Physiker James, Maler Marston und Fotograf Hurley dann auch wirklich gemeinsam austüfteln. Sie funktioniert verblüffend simpel: Eine Holzscheibe vom Umfang eines kleinen Wagenrades stellt den in etwa runden Umriss des Weddellmeeres dar. Den Ziffern auf dem Zeigerblatt sind geographische Punkte zugeordnet, an denen sich die ENDURANCE , die Spitze des Zeigers, jeweils zu einer bestimmten Zeit befunden hat: Südgeorgien liegt auf zwölf Uhr. Auf halb zwei bis halb drei Uhr befindet sich die Kette der Südsandwich-Inseln. Und Coats Land, Shackletons ausgelassene Küste, passierten wir um vier. Das Schiff wurde eingeschlossen um halb fünf, und seitdem hat uns die Eisdrift dreieinhalb Stunden lang mit sich geschleppt: Das Larsen-Schelfeis nämlich liegt genau auf acht Uhr.
Bei der Einweihung gerät der Sir ins Schwärmen. Er ist ganz aus dem Häuschen: »Macht es euch klar! Noch zwei Stunden. Das müssen wir doch schaffen! Zwei Stunden muss unser kleiner Zeiger auf seiner verteufelten Scheibe durchhalten, und wir haben die nördliche Spitze der Halbinsel erreicht.« Immer öfter stelle er sich den Moment vor, wenn das Eis mit einem Mal auseinander weicht und die ENDURANCE freikommt: »Falls sie es schafft, Gentlemen, wird sie ganz sachte ins Wasser rutschen. Vielleicht schwingt sie kurz aus, und das kann dann mächtig schaukeln! Aber dann schwimmt sie. Dann schwimmt sie!«
Wir hängen die antarktische Uhr zu den Fahnen des Empire ins Ritz. Jeden Abend vor dem Essen rückt Wild oder Worsley den Zeiger einen Fingerbreit weiter. Und doch haben wir noch nicht mal die Neun-Uhr-Marke durchschritten, als der Lärm und die Schläge beginnen, mit denen das Weddellmeer sich daranmacht, unser Schiff zu zerdrücken.
6
Feindschaften
K aum haben wir die Kälte überstanden, sind es die Eispressungen, die die meisten nicht schlafen lassen. Mit dem Ende des Blizzards Anfang August steigt die Temperatur auf frühlingswarme minus 20 Grad. Ohne
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