Der eiskalte Himmel - Roman
Mütze, das Gesicht nur von Bart und langer Mähne geschützt, räumen die, die noch Kraft haben, eine Woche lang die Schneelast von den Decks. Es ist so viel Schnee, dass er erst nach Tagen weniger zu werden scheint. Als schlieÃlich Brücke und Zwinger wieder zum Vorschein kommen, ragt die von ihrem Tonnengewicht befreite ENDURANCE einen ganzen Meter höher aus dem Eis.
Am Himmel wabern blassgrüne Schleier. Sie reichen ringsherum bis zum Horizont, pulsieren, schwellen an und ab und verschmelzen mit der Finsternis. Funkelnde kupfergrüne Strahlenbüschel tasten sich von Stern zu Stern, und scheinbar zum Greifen nah über den Masttoppen flackern warmrote Flammen, von denen ab und zu eine hinauf in den wolkenleeren Raum züngelt. Ãber Bakewells Gesicht huscht wie ein langsames Erröten das Licht, das im Osten ein apfelsinenfarbener Nebel zurückwirft. Und wenn wir den Kopf drehen, schaut über den Eisrand im Westen nicht nur eine Sonne, sondern da stehen drei, die echte Sonne und zwei Täuschungen.
Nicht einmal Bakewells Kunst des Fluchens bleibt davon unberührt. Er saugt die Backen ein und vergröÃert die Augen. Die Haut um die Augen ist trocken und gespannt. Er kann ein Gähnen nicht unterdrücken, und doch ist er ehrlich beeindruckt: »Hölle«, sagt er und verschluckt den Rest.
So unfassbar schön sie auch sind, in den Stunden von Südlicht und Nebensonnen ist es für kurze Zeit hell genug, um zu erkennen, in welche schlimme Lage der Schneeorkan unser Schiff gebracht hat. Vor dem Blizzard war das Packeis eine nahezu durchgehend feste Masse. Jetzt ist es in unzählige kleine Trümmer zerbrochen. Gedreht, emporgehoben und eingezwängt, bieten sie dem Wind Millionen neuer Angriffsflächen. Den behemotischen Schwung nennt Hussey die Kraft, mit der Böen und Seegang die beweglichen Schollen verschieben, ohne dass berechenbar wäre, wohin. Sichtlich geschmeichelt, dass sein Fachgebiet mehr und mehr in den Vordergrund rückt, meint Hussey zwar, das Schiff habe nichts zu befürchten, da es mitten in einer dicken, harten Scholle sitzt. Doch wie lang das so bleibt, weià auch der kleine Uzbird nicht. Er zuckt mit den Achseln und greift sich das Banjo. Und durch die einschläfernd süÃe Melodie hindurch hört man es rumpeln und donnern.
Je heller der Tag wird, umso deutlicher zeigt er das Ausmaà der Zerstörung, die das in Bewegung versetzte Eis anrichtet. Den Pylonenweg gibt es nicht mehr. Backbord haben ihn die Ausläufer eines Eisberges weggefräst, und steuerbord, dort, wo er auf den FuÃballplatz mündete, zieht sich ein mal grauer, mal milchig silberner Kanal hin, je nachdem, ob er gerade auseinander gestemmt oder zugefroren ist. Ein schwarzes Fähnchen, eines der Tücher aus meinem Ãlzeugspind, das in einem der Eisblockkegel steckte und uns bei Schneetreiben den Weg zurück zum Schiff zeigte, hängt jetzt Hunderte Meter entfernt zerknickt an einem Druckgrat, zu dem sich eine blau und eine grün schimmernde Scholle aufeinander geschoben haben.
Nachts, in den 16 noch immer stockfinsteren Stunden, kann man sie hören, Schollen, die sich jammernd und ächzend den Weg durch das Alteis bahnen. Manchmal heulen sie lauter als die Hunde, die zwar noch in den Hunglus sind, aber wohl schon ahnen, dass sie bald an Bord gebracht werden. Dann plötzlich ist alles totenstill. Bis ein Riss durch den Halbschlaf geht und das wohltuende Schweigen in unserer Kajüte ohrenbetäubendem Krach weicht.
Bakewell fährt hoch und stöhnt: »Was ist das? Himmel, Arsch und â¦!« Und während wir ins Dunkel lauschen, höre ich Holies Zähne klappern.
Es gibt Nächte, erfüllt vom Rattern eines endlosen Eisenbahnzugs mit quietschenden Achsen, und zur selben Zeit tutet ein Schiffshorn und ertönt das Dröhnen einer nahen Brandung. Einmal kommt es mir so vor, als schreie drauÃen auf der Scholle eine alte Frau, und immer wieder sind dumpfe Trommelwirbel sogar von dort zu hören, wo doch gar nichts sein kann, auf der anderen Seite der Planke nämlich, tief unten im Eis neben meinem Ohr.
In einer lang ersehnten Nacht, in der es sich ohne Pelzhandschuhe in der Bunk aushalten lässt, blättern sich meine Fäustlinge im Schein der Kerze durch Shackletons Exemplar der BELGICA -Berichte. Ich lese nach, was Amundsen über die Ãberwinterung schrieb: »Von lähmendem Grauen gepackt,
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