Der eiskalte Himmel - Roman
suchte ich mir eine Nische ganz vorn im Bug, die ich mit stinkenden Kartoffelsäcken verbarrikadierte. Es half nichts. Jetzt war ich die anderen zwar los, doch der Lärm, die Schläge, meine Furcht und die grenzenlose Müdigkeit blieben. Sie leisteten mir in meinem Loch treue Gefolgschaft.«
Da steht es: grenzenlose Müdigkeit. Als ich die Stelle zum ersten Mal las, nahm ich an, Lärm und Schläge der anderen Männer seien es gewesen, wovor Amundsen solche Angst hatte. Jetzt weià ich, in Wahrheit waren es die Eispressungen, die ihn auch in seiner Nische mit derartigem Grauen erfüllten, dass er nicht mehr schlafen konnte.
Aufgewühlt von dieser Entdeckung, nehme ich Buch und Kerze und schleiche hinaus. Im Mittelgang ist das ferne Krachen des Eises noch zu hören, erst im Ritz werden es das Murmeln der Wache und seiner Besucher, das Knistern und Zischeln des Ofens übertönen.
Doch der Tropf, der da hockt, ist allein. Eben will ich sagen, was alle Geister sagen: »Na, was treibst du? Hast Tee für mich?« Da sehe ich, wie weit das Alphabet schon wieder ist. Wir sind bei V ⦠verflucht!
»Es zieht. Rein oder raus«, sagt Vincent und rückt seinen Stuhl beiseite. »Brauchst gar nicht immer so zu tun, als würde ich dich auffressen wollen.«
Ich lege das Buch auf den Tisch und stelle die Kerze hin. Aber ich blase sie nicht aus. Kann sein, dass ich gleich zurückgehe.
»Falls das so wirkt, tut es mir leid.« Ich setze mich neben ihn und sehe mich um nach Mrs. Chippy. »Ist keine Absicht.« Sogar die Katze hat ReiÃaus genommen.
»Scheià drauf.« Er öffnet die Ofenklappe, sofort springt die Hitze des brennenden Blubbers heraus, und er schlieÃt die Tür wieder, indem er dagegen tritt. Hinter ihm, unmittelbar anschlieÃend an Bobby Clarks Honiggläserbatterie, liegen an der Täfelung hochgestapelt die Speckstreifen und dünsten den muffigen Geruch aus, unser Antarktisparfüm. Vincent rümpft die Nase und dreht sich danach um. Alles, so kommt es mir vor, um mich nicht ansehen zu müssen.
»Und jetzt muss ich dirân Tee aufbrühen, oder?«
»Musst du nicht.«
Zähneblecken. »Muss ich wohl. Ist doch Sir-Order, oder hab ich da was nicht mitgekriegt?«
»Weià ich, was du mitkriegst?«
Er steht auf, und eine Zeit lang habe ich sein Riesengesäà vor mir. Der Hosenboden, der sich darüber spannt, kann einem leidtun, so mächtig ist Vincents Hintern. Eis schmelzen, Wasser aufkochen, Tee hinein, ziehen lassen, Becher abwischen und Tee in Becher einschenken. Stumme Minuten.
»Da.«
Ich schlürfe, und während ich schlürfe, sinke ich langsam zurück in die Gedanken an mein Buch, und auch der Bosân fährt fort mit dem, was er gemacht hat, bevor ihn ausgerechnet ich aus der Versunkenheit gescheucht habe. Er dreht den Zigarettenvorrat für morgen. Tabak auf das Blättchen, zack, einmal linksherum, zack, einmal rechts, Blättchen gerollt und an den Mund. Drüber fährt seine kolossale Zunge. Woher hat der Mann bloà diese unfassbar glatte Visage? Eine Haut wie gegossen. Keine Pore zu sehen, Narben oder nur Falten, nichts. Vincents Hände sehen wie Arbeitshandschuhe aus, aber sein Gesicht ist das des Babys, das er einmal war.
»Und ⦠dein Fisch«, fragt er, »was macht er?«
»Keine Ahnung. Zappeln jedenfalls nicht.«
»Immer dabei, was?« So wie er das sagt, klingt es fast zärtlich.
»Japp.«
Vincent kichert, leise und gemein, und ein Blick blitzt herüber.
Vielleicht hätte er sich hinreiÃen lassen und noch etwas gesagt. Aber es wird laut jetzt, in der Ferne ist ein Poltern zu hören, das feine Zittern der Druckwelle läuft durchs Schiff und lässt ein paar Nieten in ihren Streben kreischen. Jeden anderen hätte ich in diesem Moment gefragt, wie er unsere Chancen einschätzt, dass wir dem Eis noch entkommen.
Er steht auf und bläst die Kerze aus.
»Oder hattest du vor, uns abzufackeln?«
»Vergessen. Tut mir leid.«
»Scheià drauf.«
»Mach ich.«
»Dann ist es ja gut, Blackboro!«
Es hat keinen Sinn, sich mit ihm anzulegen. Alle, die wir hier aufeinander hocken, durch die Bank sind wir verbohrt. Aber er, unser Bosân, ist der verbohrteste. Ich kann mich nicht erinnern, John Vincent je von etwas anderem als Arbeit, Pflicht und Gehorsam sprechen gehört zu haben.
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