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Der eiskalte Himmel - Roman

Der eiskalte Himmel - Roman

Titel: Der eiskalte Himmel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Main> Schöffling & Co. <Frankfurt
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zu machen. Mal kam ich mir lächerlich vor, dann wieder brach ich in Jubel aus und applaudierte mir für meinen grenzenlosen Mut. Ich durchforstete die Bücherschränke meiner Eltern und Geschwister nach Schilderungen von Schiffsuntergängen. Schauder jagten mir über den Rücken, als ich entdeckte, dass Jack London eigentlich John London hieß, genau wie mein Schiff! Und wenn ich dann die ersten Sätze las, kam es mir vor, als ruderte ich weit auf das Wasser hinaus.
    Einzig dank dieser Bücher bin ich in den Tagen vor meiner Abreise noch halbwegs zurechnungsfähig geblieben. In einer durchwachten Nacht las ich den gesamten Robinson Crusoe. In einer anderen schrieb ich Ennid einen Liebesbrief, der in einer Hymne auf ihr Hinken gipfelte. Glücklicherweise las ich ihn mir morgens noch einmal durch.
    So einfach, wie ich den Brief wegwerfen konnte, ließ sich die auf der Heuerliste geleistete Unterschrift nicht rückgängig machen. Und als mir klar wurde, dass es kein Entrinnen gab, wurde ich krank vor Angst. Ich weiß noch, wie ich auf dem Rückweg von einer Besorgung für Vater durch die Dock Street kam. Am Ende der Gasse sah ich die Schiffe an der Pier liegen. Die JOHN LONDON war nicht dabei, und doch wurden mir bei dem Anblick die Knie weich. Ich konnte nicht weitergehen. So wie die Leute mich anstarrten, muss ich zum Fürchten ausgesehen haben. Mit glühendem Kopf und wilden Blicken drückte ich mich an eine Wand. Ich fühlte mich in die Enge getrieben, schrecklich allein. Ja, das war der schlimmste Moment. Schlimmer wurde es nicht. Ich rannte davon, und danach ging es mir langsam besser.
    Am letzten Tag vor Auslaufen ging ich in Muldoons Laden, um mich von Ennid zu verabschieden. Aber sie war nicht da. Sie sei krank. Mister Muldoon fragte, ob er etwas ausrichten könne, und ich erfand irgendeine Geschichte mit Ennid und Regyn.
    Â»Auf Wiedersehen, Sir!« Ich hielt ihm die Hand hin.
    Er griff sie, sah mich aber nicht an.
    Â»Ich habe eine Frage«, sagte ich. Da hob er den Blick und sah mich, wie es schien, zum ersten Mal klar und deutlich vor sich stehen.
    Â»Ich liebe Ihren Laden, Sir. Alles –«, ich zeigte durch das muffige dunkle Geschäft, in dem Ennid zur hinkenden Ennid verkam, »alles hier liebe ich, das, das, alles. Ich würde gern … ich meine, wenn ich zurück bin, Sir, können Sie da vielleicht einen Gehilfen gebrauchen?«
    Mister Muldoon klappte sein Buch auf und sah hinein, als stünde dort eine Antwort.
    Da ist die Glocke. Vier Schläge.
    Auf einer kleinen Schonerbark wie der ENDURANCE hört man die Schiffsglocke in jedem noch so versteckten Kabuff unter Deck. So weiß auch der blinde Passagier, wie spät es ist: vier Glasen. Über dem Meer zwischen Patagonien und den Falkland-Inseln dürfte es nicht heller sein als in meiner Kammer.
    Ich will Shackletons Entscheidung nicht vorgreifen, aber mich eingerechnet wird derzeit nicht mehr als ein halbes Dutzend von den 28 Mann Besatzung wach sein: ein Rudergänger, drei auf Wache an Deck, ein Ausguck und der Mann im Ölzeugspind. Der Rest hat Wachskugeln in den Ohren und schlummert. Wenn ich die Augen zumache, sehe ich die große Kastanie auf dem Platz vor Muldoons Laden vor mir und wie ich durch die Straßen am Hafen lief, um mich von dem zu verabschieden, was ich in Wirklichkeit liebte, zum Beispiel die Bäume, anhand deren mir mein Vater die unverwechselbaren Eigenschaften eines jeden Holzes erklärte. Die Angst und alle die Gefühle, die mich bedrückt hatten, waren verschwunden. Am letzten Tag in Newport blieb bloß Wehmut übrig. Ich spürte, wie sich meine Arme und Beine bewegten, und die Luft war so mild und umfloss mich, dass ich meinte, ich würde darin schwimmen, auf der Rodney Street zum Kontor gehen und doch aufrecht dorthin schwimmen.
    Von unserem alten Kontormeister Simms erfuhr ich, dass die JOHN LONDON beladen, ausgerüstet und verproviantiert war.
    Er zog mich auf: »Crew vollzählig, sobald Küchenhilfe Blackboro heil an Bord gelangt.« Und er teilte mir die Auslaufzeit mit: »Beginn Rattenwache.«
    Das sagte mir nichts.
    Â»Mitternacht, Merce.«
    Wir plauderten über die Zeiteinteilung an Bord in Glasen und in Wachen, und Simms, der lange Jahre Steuermann gewesen ist, riet mir, ich solle auf der Hut sein, wenn ich nicht Schiffsnauke werden wolle.
    Während er weiter Rechnungen sortierte,

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