Der eiskalte Himmel - Roman
erklärte er mir, das jedes Schiff seinen Nauken habe.
»Nauke ist so eine Art schwarzes Schaf. Der Buhmann an Bord, das ist Nauke. Er ist immer schuld. Kommt eine Rah herabgerasselt â Nauke warâs. Und bricht Feuer aus im Kohlenbunker â Naukes Schuld. Jeder Skipper erwischt mal einen üblen Tag; dann pfeift er den Steuermann an. Der Steuermann geht zum Bosân und beschimpft ihn. Die Schikane rappelt die Ränge hinunter, bis sich alle einig sind: Dafür muss Nauke büÃen. Es gibt Schiffe mit mehreren Nauken, auf denen musst du aufpassen, dass du nicht Nauke der Nauken wirst. Und es gibt Schiffe, auf denen sind alle â¦Â«
Weiter kam er nicht. Vor dem gläsernen Kabuff, in dem Simms sein Bestes gab, um mich vor Naukes Los zu bewahren, stand Ennid. Sie lächelte flüchtig, als sie uns entdeckte, und hob unschlüssig die Hand.
»Die kleine Muldoon«, sagte Simms.
Ich führte sie in Vaters leeres Büro. Es war das erste Mal, dass wir allein waren. Fantastisch sah sie aus mit dem Regenmantel und dem Schirm, der ihr am Arm baumelte. Sie war gar nicht krank, Ennid stand vor mir, und ich fing an zu zählen â zwanghaft, ein Zählzwang. Ich zählte die Fenster im Büro meines Vaters und die Knöpfe an Ennids Mantel. Ich überschlug, dass ich sie fünfmal im Laden ihres Vaters und einmal im Freien gesehen hatte: drauÃen in den Alexandra Docks auf halbem Wege nach Pillgwenlly. Aber auch da waren wir nicht allein gewesen. Und geredet hatten unsere Väter, während wir einander Blicke sandten, die nicht tief genug sein konnten. Sie stellte sich an eines der Fenster. Es sind vier, dachte ich, tatsächlich vier. Und ich setzte mich auf eine Ecke des Schreibtischs, davon gab es auch vier.
Das gegenüberliegende, neugebaute Kontorhaus hatte dagegen so viele Fenster, dass ich ihre Anzahl nur schätzen konnte. Es war ein ungeheurer Kasten.
»Es ist so«, begann sie. »Ich möchte nicht, dass du auf diese Weise mit meinem Vater redest. Vielleicht kannst du dir denken, dass er dich seit heute für völlig übergeschnappt hält. Was hast du dir dabei gedacht, Merce Blackboro, hm?«
Sie bekam einen hässlichen Mund, das lag in der Familie. Also gut, dachte ich, streiten wir uns. Das wird dir leidtun, um Mitternacht bin ich weg. Beginn Rattenwache. An der Wand über dem Wartestuhl in der Ecke sah ich das in Gold gerahmte Bild hängen, das mir geheimnisvoll und bedeutsam erschien, seit ich es als Junge zum ersten Mal betrachtet hatte. Kaiser Napoleon ist darauf zu sehen, wie er einsam an einem Strand steht und über das Meer blickt. Mein Vater behauptet, es sei die Küste von Südengland, an der Bonaparte einmal irrtümlich gelandet war.
Auch Ennid schwieg. Zum Streit kam es also nicht. Ennid suchte etwas in ihrem Handtäschchen und durchbohrte mich mit einem Blick, als sie es gefunden hatte.
»Ich habe etwas für dich.« Sie hielt es mir hin. Es war bunt, bunt angemalt, ich nahm es und sah, dass es ein kleiner Fisch aus Holz war.
»Es ist ein Glücksbringer.« Sie kam zu mir und nahm mir den Fisch aus der Hand. Sie drehte ihn um und klappte ihn an der Bauchseite auf. Es lag ein Zettel darin.
»Wenn du einmal nicht weiterwissen solltest, dann lies das.«
Sie gab mir den Fisch zurück. Keine Armlänge entfernt stand sie vor mir. Ich zog sie zu mir heran, vergrub das Gesicht in ihrer Halsbeuge und küsste mich nach oben zu ihrem Mund.
»Ich muss gehen«, keuchte sie und machte sich los, und ich hatte die Vorstellung, sie würde mir unter den Lippen zerbröckeln.
»Bleib noch!«
»Wozu?«
Auf dem Stuhl unter dem verlorenen Napoleon lieà mein Vater Arbeiter sitzen, bis sie mumifiziert waren. Da hatte ich einmal mit Zahnschmerzen gesessen, bis ich fast die Besinnung verlor. Ennid setzte sich auf meinen SchoÃ. Ich küsste sie, und sie sagte zum ersten Mal: »Du Ãffchen.« Immer wieder, in jeder Pause zwischen unseren Küssen, sagte sie die zwei Worte. Sie öffnete meinen Gürtel, griff unter ihr Kleid und keuchte: »Du Ãffchen. Ãffchen!«
Als sie wieder aufstand und sich die Sachen zurechtzupfte, hatte ich den Fisch noch in der Hand. Mein Puls raste, als ich ihr von der verunglückten Hymne auf ihr Hinken erzählte und davon, dass ich den Liebesbrief in den Usk geworfen hatte.
»Dein Glück!«, sagte sie bloÃ, »dein
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