Der Eisplanet
Legenden und den wenigen bekannten Tatsachen der Geschichte von Minerva zufolge war der größte Teil der Flotte, die die marsianischen Flüchtlinge vom Mars transportierte, auf Befehl des Kommandanten, Garfield Talbot, zerstört worden. Die Flotte, hastig aufgestellt, mangelhaft ausgerüstet, war ursprünglich zum Flug zu den näheren Sonnensystemen bestimmt gewesen – Alpha Centauri, Sirius, Altair, Prokyon. Aber dem sehr religiösen Talbot war die Entdeckung des zehnten Planeten als Zeichen des Himmels erschienen. Sein Argument lautete, daß es besser sei, eine harte, doch gesicherte Zukunft in unterirdischen Gewölben zu wählen als sich an der bloßen Hoffnung zu weiden, viele Lichtjahre entfernt vielleicht einen bewohnbaren Planeten in einem anderen Sonnensystem zu finden. So warf man den ursprünglichen Plan um und landete auf dem äußersten Planeten des Solsystems. Nur ein Kapitän verweigerte die Zustimmung. Talbot faßte dies als empörenden Undank gegenüber der vom Himmel erwiesenen Gnade auf und verwandelte das Raumschiff jenes Kapitäns mit einem Atomtorpedo in eine radioaktive Gaswolke. Nach der Landung, als die ersten unterirdischen Stützpunkte fertiggestellt waren, befahl Talbot, indem er auf Gottes unendliche Gnade verwies, die sich darin zeige, daß er der Menschheit eine letzte Chance an diesem zwecks Prüfung so lebensfeindlichen Verbannungsort gewährt habe, die Zerstörung der Flotte. Wenn die Menschheit nicht innerhalb des Solsystems in Frieden zu lernen lebe, so könne sie es auch außerhalb nicht.
Garfield Talbot war dreiundvierzig Jahre alt, als er die Reste der marsianischen Zivilisation nach Minerva brachte. Fast achtzig Jahre lang arbeitete er mit fanatischer Entschlossenheit an den Grundlagen einer harmonischen und stabilen Gemeinschaft, worüber er ein Alter von einhunderteinundzwanzig Jahren erreichte. Seine Ideen über Mensch und Gesellschaft hatte er in einem Buch festgehalten, das sich schlicht Talbots Bekenntnisse nannte. Innerhalb der folgenden Jahrhunderte gewann es allmählich die Bedeutung eines Testaments. Es war die einzige auf Minerva zugelassene Bibel. Die christliche Mythologie hatte ihren Rang schon vor dem Untergang der marsianischen Kultur verloren. Garfield Talbot war der Moses des Weltraums. Minervas Regierung, die sich aus den Räten der fünf Städte zusammensetzte, hielt es für unabdingbar, Talbots Lehren streng zu befolgen. Talbots Bekenntnisse waren Gesetz.
Idris lernte viel über Talbot und seinen Einfluß auf die Entwicklung der minervischen Gesellschaft. Er erfuhr auch viel über Zylonia, über ihre Eigenschaften als Frau und minervische Bürgerin.
Das meiste jedoch fand er über sich selbst heraus.
»Wann kann ich die anderen Überlebenden der Dag sehen?« Er hatte die Frage schon oft gestellt.
Zylonia erteilte ihm die übliche Antwort. »Bald. Sehr bald.«
Er begann an ein Komplott zu glauben. Womöglich wollte man die Begegnung mit den anderen Überlebenden nicht gestatten. Er befand sich im Nachteil, mußte alles akzeptieren, das man ihm erzählte. Von nichts vermochte er sich persönlich zu überzeugen. Er war nur ein Gehirn in einem Tank voller Nährflüssigkeit, gekoppelt mit Drähten. Er war ein Gefangener.
Vielleicht existierten gar keine anderen Überlebenden. Vielleicht existierte Manfrius de Skun nicht. Vielleicht gab es Zylonia nicht. Vielleicht lebten Orlando, Leo und Suzy, war die Dag Hammarskjöld unterwegs zum Mars, hatte man den Kapitän in seine Kabine gesperrt, weil er endgültig verrückt geworden war. Sein verwirrtes Bewußtsein konnte den Planeten Minerva, das Mädchen und den alten Mann erfunden haben. Wahnvorstellungen waren bei einem Mann, der zu lange im Raum gewesen war, nicht gerade ungewöhnlich. Es paßte zusammen.
»Bald?« brüllte er. »Wie lange dauert das?«
Zylonia krümmte sich, die Hände auf die Ohren gepreßt. »Wenn Sie die Elektronik noch länger mißbrauchen, muß ich das Volumen senken, Idris. Allerdings müßten Sie dann ständig brüllen, um gehört zu werden.«
Er war zerknirscht. »Es tut mir leid. Sogar eine Gestalt, die nur in meiner Vorstellung existiert, kann etwas Rücksichtnahme erwarten.«
»Wovon sprechen Sie?«
»Ich weiß es nicht ... Wir wollen uns über die anderen unterhalten.«
»Idris, bringen Sie Geduld auf.« Sie lächelte. »Die Begegnung muß behutsam vorbereitet werden. Wollen Sie nur aus Ungeduld Ihre mentale Beeinträchtigung und die der anderen riskieren?«
Er
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