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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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den ihn ohnehin schon jeder, glaube ich, empfand, zu durchbrechen und für ihn zu öffnen. Ich nehme an, daß er eher meine Bemühungen honorierte als deren Ergebnisse, die meist kläglich ausfielen. Ich wollte über Literatur sprechen, Kinofilme, Architektur, versuchte ein Thema zu finden, wozu jeder etwas sagen konnte – verlorene Liebesmüh. Die Zeiten, als Ärzte humanistisch gebildete Persönlichkeiten waren und auch von Dingen außerhalb ihres Tellerrands etwas wußten, sind offenbar versunken und vorbei. Viele Kollegen,die ich kenne, haben von nichts, das außerhalb ihres Fachgebiets liegt, eine Ahnung, und nicht selten haben sie auch von ihrem Fachgebiet keine Ahnung. Vielleicht hängt das eine mit dem anderen zusammen, wer weiß. Aber ich will Ihnen nicht darüber berichten, wer heutzutage die hehren Portale der Heilkunst durchschreiten darf, um nachher auf die kranke Menschheit losgelassen zu werden; es ist, um es kurz anzudeuten, eine Schande und ein Skandal. Heutzutage werden Leute zum Studium zugelassen, die ungebildet sind, unwissend und, was das Schlimmste ist, ohne erkennbaren Drang, dem abzuhelfen. Ich korrigiere Klausuren und Seminararbeiten und habe dabei unverhältnismäßig oft das dringende Bedürfnis nach Befugnissen, die es mir erlauben würden, die Dame oder den Herrn Kandidaten umstandslos aus dem Kolleg zu werfen. Seminararbeiten, geschrieben in einem Kirmesidiom, aber nicht in einer Sprache, die dem gebotenen Intelligenzquotienten entsprechen würde. Ich denke mir dann, was können die als Ärzte taugen? Aber es taugen manche von denen durchaus etwas, rein fachlich wenigstens. Leider. Das gehört zu den Dingen, die ich gern einmal von Wiggo erklärt bekommen würde.
    Ich beobachtete ihn, er beobachtete mich, vielleicht gerade deshalb, weil ich ihn beobachtete und in der Tarnung solchen Tuns nie besonders gut gewesen bin. Er ließ sich nichts anmerken. Aber ich spürte seinen Blick, wenn ich aufgehört hatte, ihn verstohlen anzusehen und zu mustern. Vielleicht war es simple Neugier, die mich aufmerksam werden ließ; ein Mensch wie er war mir noch nie begegnet. Zuerst war mir aufgefallen, wie er las. Er saß in einer Ecke und schien sich um nichts, was um ihn herum geschah, zu kümmern – wie sich übrigens auch um ihn niemand zu kümmern schien. Das ist mir später aufgefallen: Wenn Wiggo nicht selbst aktiv wurde und seine provokanten Fragen stellte, war er den Anwesendenherzlich gleichgültig; niemand begrüßte ihn (außer Dorothea), niemand wollte etwas von ihm wissen. Er hatte ein Buch in der Hand, hielt es liebevoll, beinahe zärtlich; wenn er umblätterte, dann nur am oberen Seitenrand und sehr behutsam, auch strich er die Seiten danach nicht glatt, knickte den Rücken des Buchs nicht. Er schien völlig versunken, die Geräusche und Vorgänge rings um ihn prallten an ihm ab. Ich sah ihn an und dachte: Der ist jetzt ganz woanders. Daß ich seinen Körper sehe, ist einer jener Irrtümer, der Sichtbarkeit mit Berührbarkeit kurzschließt und beides zusammen mit Anwesenheit verwechselt. Seine Lippen bewegten sich manchmal; er schien Worte und Sätze nachzusprechen. Das allein wäre mir nicht sonderlich interessant erschienen, denn wahrscheinlich lesen manche Menschen auch die Bild -Zeitung so. Wiggo aber las Die Argonauten von Apollonios Rhodios, er mußte es mitgebracht haben, denn ein solches Buch habe ich bei Dorothea nie bemerkt, und ich sehe mir immer die Bücherschränke der Leute an, bei denen ich zu Besuch bin. Er las es in einer Ausgabe, die völlig verschollen sein mußte: weißer, etwas vergilbter Umschlag, Titel des Werks, Name, Verlag; einziger Schmuck war ein hellblauer Mäander am Umschlagrand. Wer so etwas liest, sagte ich mir, und dann noch auf diese Weise, den möchte ich kennenlernen
    – Treibgut, ich trieb durch Berlin, beobachtete, ich sah: Angst, sie war wie Ungeziefer in die Häuser gedrungen, fraß die Lebensfreude und die Hoffnung, ließ das Leben als Abfall übrig, ein Leben ohne Aufblick, ohne wirkliche Fröhlichkeit, jeder Tag ein mit schlafraubender Unsicherheit und mit einem gleichgültig-mitleidlosen Vorläufig beschiedener Existenzkampf, dem die gestundete, mit Auf-und-ab-Gehen, ruheloser Suche und Betäubung verbrachte Nacht folgte.Ein großer Klavierstimmer war gekommen und hatte seinen Schlüssel auf einen Ort gesteckt, der vorläufig noch unkenntlich war, hatte angezogen, und die Straßen waren wie Saiten gespannt worden. Hektischer, rastloser

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