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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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– Ich sag dir, laß ihn doch mal machen. Das kommt immeralles halb so wild. Die Jugend ist immer groß mit Worten, und wenn er über die Stränge schlägt, so haben wir ihn bald unter Kontrolle. Immerhin sind wir seine Geldgeber, und wenn er’s zu bunt treibt, krrk, verstehst du! Hans-Georg lachte rauh und machte die Hahnabdrehgeste
    – Tango! schrie Mauritz vom Klavier, der Herr mit der Bismarckbürste strich sich den Schnurrbart, leckte sich die Lippen, griff zum Bandoneon, schloß die Augen und klopfte den Takt mit der flachen Rechten auf dem Instrument, der Spirituosenfabrikant Edgar strich eine klagende Melodie auf der Violine, der die Baßgitarre der Kapelle antwortete, das Bandoneon begann mit einem melancholischen Lächeln, fiel ins Lachen des Klaviers ein, schraubte es auf bis zum Gelächter, kippte und ließ sich, während das Klavier immer enger Fröhlichkeit umschlich, vom Netz der Violine und der Baßgitarre auffangen, hüpfte heraus und verwandelte sich in eine Perlmuttersäge, die mit ihren stakkatohaft gesetzten Schnitten die Körper der Tanzenden aus ihren Achsen fällte, Wie-ge-schritt, Va-len-tino! wie die Figur hieß, was mir Manuela kurz darauf erklären würde, und in die sich Professor Flo jetzt mit zeltartig vortretendem Hosenschlitz beugte, Manuelas Schenkel, der sich um seine Hüfte schlang, die honigfarbenen Lichtzungen auf Knie und Wade, das Bandoneon hustete und blies, in exakten Synkopen zur Violine versetzt, die Körper wieder gerade, Klavier und Baßgitarre karriolten um die im Zeitraffer getanzten Schachzüge der Paare, Komm! forderte Manuela mich auf, nachdem ich nach ihrer Meinung lange genug die Augen offengehalten hatte. Professor Flo verabschiedete sich in merkwürdig gekrümmter Haltung, wehrte verzweifelt die besorgte Babette ab. Keine Angst, ich zeig dir, wie es geht
    – überhaupt, Herr Kaltmeister: Was wollen Sie erreichen?– Maßstäbe. Nach der Phase der Unsicherheit folgt die Phase der Konsolidierung. Vertrauen. Ende der Beliebigkeit. Saubere Begriffe. Unterscheidung, Hierarchie, Ränge. Unflat ist Unflat, Mozart ist Mozart. Nichts ist so schlimm für das Leben der Menschen wie die Verwirrung der Maßstäbe. Jeden den ihm zukommenden Platz zumessen, nach genauer und wohlabgewogener Prüfung. Das ist ein Teil von dem, was ich erreichen will, wenn auch kein kleiner. – Aber wie wollen Sie das durchsetzen? Wollen Sie die Leute zu ihrem Glück zwingen? – Nein, das ist gar nicht nötig, entgegnete Mauritz mit unbewegter Miene. Ordnung, Hierarchie und Gerechtigkeit sind das tiefste Bedürfnis der Menschen im gesellschaftlichen Leben, so wie das tiefste Bedürfnis der Menschen im privaten Leben Liebe und Verständnis ist. Was ich erreichen will, das wollen die meisten Menschen erreichen. Sie verfügen nur nicht über meine Radikalität und meinen Mut. Ich weiß, daß es kein Spaziergang werden wird. Ich riskiere Karriere, bürgerliches Glück im Winkel, vielleicht mein Leben, wer weiß. Es wimmelt ja von Fanatikern, die die Dinge anders sehen und sich nur mit einem gutgezielten Schuß zu helfen wissen. Nicht, daß ich sie nicht verstehen könnte, im übrigen. Auch pflegt es ja so zu sein, daß die Revolution ihre Kinder frißt. Es gibt die Umstürzler der ersten Stunde und die der zweiten. Die der ersten Stunde sind selten die, die regieren, wenn sich der Staub gelegt hat. Nach den Soldaten kommen die Verwalter, das war schon immer so. Ich habe das einkalkuliert, ich bin mir der möglichen Folgen meines Tuns sehr wohl bewußt. Keine Sorge, ich werde die typischen Fehler der Märtyrer zu vermeiden wissen, im Grunde tauge ich schlecht dazu, nicht etwa aus Feigheit, sondern weil der Typus unklug handelt. Doch vielleicht ist die Zeit gekommen, wo es klug ist, unklug zu sein. Aber sie lassen sich nichts sagen und achten’s nicht; sie gehenimmer hin im Finstern; darum müssen alle Grundfesten des Landes wanken. So steht es geschrieben
    – ich hörte mir die Diskussion mit gemischten Gefühlen an. Auch mir erschien Mauritz’ Vorhaben als eine Art Wahnsinn, dennoch war ich fasziniert von seinen Worten. Vieles war mir vertraut; erstens, weil er in mehreren Unterhaltungen mit mir ähnliche Argumente gebraucht hatte, zweitens, weil einige seiner Überlegungen auch mir schon im Kopf herumgegangen waren. Allerdings hatte ich nie die Schlußfolgerungen gezogen, die er zog. Darüber waren wir auf der Party bei Dorothea in Streit geraten. Ich hatte sie kennengelernt, die Angst, die

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