Der Eisvogel - Roman
an den Nerven frißt, bis davon nichts mehr übrig ist. Wenn Sie sich vor Sorgen schlaflos hin- und herwälzen. Wenn Sie nicht wissen, wovon Sie die Miete bezahlen sollen im nächsten Monat. Wo Sie in einem Jahr sein werden – immer noch an diesem Ort oder unter einer Brücke. Ich hatte sie kennengelernt in meiner Praxis, die Sorgen der Menschen, die zu mir kamen. Und was ich sah, war, daß das beherrschende Gefühl im Leben der Menschen, unter den Maskierungen, Zynismen, Scherzen, Ablenkungsmanövern, Angst war. Man fragte ein wenig nach oder schwieg einfach im halbdunklen Zimmer, und sie begannen zu erzählen. Nach einer Weile hatte ich den Eindruck, daß das für sie das wichtigste war. Nicht der Ratschlag. Wenn ich imstande war, einen zu geben, schienen sie ihn zu akzeptieren, aber nur ein einziger bat mich ohne Umschweife um Rat. Das war mein Vater. Für die meisten schien die größte Erleichterung zu sein, reden zu können, jemanden zu haben, der ihnen zuhörte. Ich erinnere mich an einen Bankangestellten. Wie er in meine Praxis kam, die ich in meiner Wohnung eingerichtet hatte, ein schlanker, hochgewachsener Mann in einem dieser typischen anthrazitfarbenen Yuppie-Anzüge mit Weste und Button-down-Hemd. Er blickte sich rasch um. Ichsah ihm an, daß er dachte: Da wohne ich aber besser. Und ich dachte: Was will der Kerl von mir? Kommt er etwa von Vater? Aber dann begann er zu erzählen, sank immer mehr in sich zusammen, die Schultern wurden immer schmaler. Er erzählte, und ich bekam zu spüren, daß er an seinen handgenähten Schuhen, der Krokodillederaktentasche und der teuren Uhr am Handgelenk keine Freude hatte. Um seine Gewinnvorgaben einzuhalten, war er zum Hasardeur geworden, bewegte sich mit seinen finanziellen Transaktionen am Rand des Kriminellen, und manchmal darüber. Nachts stand er auf und mußte sich regelmäßig übergeben. Jeden Monat gebe es Entlassungen, Filialen würden geschlossen, keiner wisse, wen es als nächsten treffe. Es sei die Angst, die ihn zerfresse und kaputtmache. Warum er überhaupt weitermache, wisse er nicht. Er habe das Gefühl, daß alles immer schlimmer würde, immer unberechenbarer, und daß man tun könne, was man wolle, es ziehe einen immer tiefer in den Strudel. Das Leben sei ihm zur Abfolge von Schrecklichkeiten geworden. Der Banker, der ausgebrannte Lehrer, die Hausfrau, die Sekretärin aus dem Innenministerium, Studenten, ein Langstreckenläufer, der Hegel besser kannte als ich; der Webdesigner, die Reformhausverkäuferin, die Buchhändlerin: sie alle einte Angst. Man riskierte viel, hangelte sich an halsbrecherischen Projekten entlang, bis an den Rand des Lebensbedrohlichen, gab es frei – und es geschah nichts oder nur so wenig, daß die Angst nicht verschwand, daß sie der vertraute Partner blieb, mit dem man es seit dem ersten Schrei zu tun hatte. Meist ging es um Geld. Zu mir kam die Ärztin, die nicht wußte, wie sie die Kredite für ihre Praxis abzahlen sollte, die bei einem Vierzehn-Stunden-Tag keinen Mann fand und sich nach Kindern sehnte. Junge Leute kamen zu mir, ausgestattet mit allen Liebesbeweisen wohlhabender und fürsorglicher Eltern, und erzähltenmir, daß sie jeden Morgen vor dem Spiegel standen und dem anschwellenden Stadtgeräusch zuhörten, diesem Lärm einer Münzprägungsstätte, daß sie nicht wußten, ob sie heute hip und kreativ genug sein würden in ihrer Werbeagentur, ihrem Graphikbüro, daß sie Tabletten schluckten. Sie standen vor dem Spiegel und blätterten ein Leporello verschiedener Arten des Lächelns durch, denn das Lächeln, sagten sie, war die beste Art des Angriffs. Dann schlüpften sie in ihre Markenkleider wie in Rüstungen. Es kam der Polier, dem der Sohn an Krebs gestorben war, und der Trost bei Augustinus suchte – und damit, nebenbei, Mauritz’ These von den unterbelichteten Proletariern widerlegte, die mir schon damals als Vorurteil eines Menschen unangenehm in den Ohren geklungen hatte, der einfache Menschen, die nach meinen Erfahrungen nur als sogenannte einfache Menschen bezeichnet werden können, nicht kannte. Angst ist es, worüber wir uns hier unterhalten, Herr Verteidiger; worüber ich mich mit Ihnen unterhalte, ich muß mich verbessern. Angst und Hoffnung. Das heißt: über die Abwesenheit von Hoffnung, Mut, Lebensfreude, eine Abwesenheit, die etwas hinterlassen hat, das über unserer Zeit liegt wie ein Bleihimmel
– Hundertmarkscheintanz! rief der Herr mit dem Bismarckschnitt Manuela zu, nachdem ich ihr
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