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Der Eisvogel - Roman

Der Eisvogel - Roman

Titel: Der Eisvogel - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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zum dritten oder vierten Mal auf die Füße getreten und die Tanzfläche dadurch in ein Stolperfeld verwandelt hatte, ein Tisch wurde leergeräumt, Mauritz erklärte es mir: Jeder, der will, kann einen Hundertmarkschein auf den Tisch heften, Manuela muß daran vorbeitanzen, berührt sie den Schein, muß sie einen Hunderter an den Besitzer zahlen – das ist der Anreiz für ihn. Gelingt es ihr, ohne Berührung daran vorbeizukommen, gehört er ihr – das ist das Risiko. Je mehr Hunderter man hinlegt, desto mehr kann man gewinnen oder verlieren, und so ist es auch fürManuela. Ich sagte: Mauritz, ich habe gar nicht soviel Geld. Doch, doch, Herr Ritter, haben Sie, sagte neben ihm die Freifrau, für Ihren Ratschlag in der Spachtelmassefrage bekommen Sie von mir ein Honorar von tausend Mark. Wieder erklang eine spanisch feurige Melodie, Manuela sprang auf den Tisch, Mauritz hatte den Zigarillo wieder vom Kaktusstachel gepflückt und klopfte den Takt auf dem Klavier, die Umstehenden zückten ihre Brieftaschen, der Herr mit dem Bismarckschnitt befestigte die Hundertmarkscheine mit Stecknadeln und pflasterte selbst zehn oder elf in die Lücken, die geblieben waren
    – Herr Kaltmeister, noch einmal zu dem, was Sie vorhin sagten, das mit den Achtundsechzigern. Wissen Sie, auch ich war mal jung, und in der Jugend treiben selbst Unternehmer, wie ich einer bin, seltsame Sachen, man denkt an Revolution und Umsturz, hat Probleme mit dem Lauf der Dinge, na, so halt. Ich war auch ein Achtundsechziger, und was Sie darüber sagten, gefällt mir nicht. Einverstanden, aus diesen Aktionen sind nicht nur Engel hervorgegangen. Manches ist schiefgelaufen, und über die Karrieren so einiger Herren könnte man sich lange unterhalten. Zum Beispiel auch über meine eigene. Aber Scherz beiseite. Es gab auch viel Gutes, das wir bewirkt haben, und Sie wissen nicht, was damals für ein geistiges Klima in diesem Land herrschte. Unvorstellbar. Faschismus? Hat’s nie gegeben, und wenn, dann war keiner dabei. So in etwa. Da war wirklich der Muff von tausend Jahren ... Ich schätze Sie durchaus, aber einige Ihrer Schlußfolgerungen und Forderungen sind mir zu radikal. Es ist auch ein wenig billig, die ganze Schuld an der Misere auf den Achtundsechzigern abzuladen. Das stimmt so nicht. Ich wollt’s Ihnen nur sagen, wie schon erwähnt. Ich bin weißgott kein Achtundsechziger mehr, aber ich bin es einmal gewesen, und dazu stehe ich auch. Ich finde es falsch, wie Sie über eine Sache urteilen, die Sie für eindifferenziertes Urteil kaum gut genug kennen dürften. Die Dinge liegen nicht so einfach, wissen Sie. Die Dinge liegen nie einfach. Und auch wir, die damals jung waren, haben an etwas geglaubt. Ob Sie damals, im übrigen, so weit von uns entfernt gewesen wären, ist keine uninteressante Frage. Denken Sie mal drüber nach, bei einer Flasche sehr gutem Weinbrand vielleicht. Schick ich Ihnen. Edgar hob die Hand mit dem Weinglas und prostete dem finster blickenden Mauritz zu
    – die Umstehenden klatschten leicht versetzt, aber rhythmisch zum Takt der Musik, die immer schneller und wilder wurde, Manuela tanzte, die Arme in die Hüften gestemmt, die knapp-energetischen Figuren eines Flamenco, die Scheine auf dem Tisch sparten schmale Straßen aus, die den Linien des Tanzes entsprachen, ihre Schuhe stanzten präzis in die schmalen Stege Weiß zwischen den Geldscheinen, Gell, das kriegst du nicht alle Tage geboten, sag bloß, das ist dir die paar Piepen nicht wert, du alter Geizkragen! schrie der Herr mit dem Bismarckschnitt lachend Professor Flo zu, der ein saures Gesicht machte, als Manuela mit der Geschmeidigkeit und Eleganz einer großen Katze an seiner Einlage vorbeigetanzt war, sie rief ihm triumphierend etwas zu und warf den Kopf zurück dabei, nahm die Arme hoch, so daß man die rasierten Achseln sah, ihr Oberkörper geriet in wiegende Bewegung, das Licht flog wie seidige Vögel über die nackte Haut an der Seite ihres Kleids, sie tanzte jetzt in der Zone, wo der Herr mit dem Bismarckschnitt den Großteil seines Einsatzes ausgelegt hatte, manche Scheine wegen der Platzknappheit doppelt geheftet, sie beugte sich ohne im Tanz innezuhalten zum Tisch hinunter, wobei die Augen der Männer vor Gier fast aus den Höhlen traten, nahm eines der Weingläser, trank, warf es mit einem Schrei beiseite, lüpfte vor dem Herrn mit dem Bismarckschnitt leicht das Kleid, er brüllte vor Vergnügen, zog einefürchterliche Grimasse, beugte sich vor und biß ihr in die

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