Der Elefanten-Tempel
Enttäuscht schlenderte Ricarda über das Gelände des Refuge und machte einen Abstecher zu ihrer Hütte, die den großen Mango-Baum zu umarmen schien. Keine Spur von Sofia. Das war gar nicht so unpraktisch, da konnte sie in Ruhe auf ihrer großen Thailandkarte nachschauen, wo Nuans Heimatort Ban Ta Klang lag. Nur so, aus Interesse. Als sie es fand, war sie verblüfft. Es war ein Dorf nahe der Grenze zu Kambodscha. Hunderte von Kilometern entfernt. So weit war er mit Devi gereist, um hierherzukommen? Er musste Monate gebraucht haben.
Ricarda brannte darauf, es Sofia zu erzählen. Vielleicht sollte sie mal nachschauen, ob sie und Chanida im Haupthaus waren. Aber vielleicht störte sie da. Gulap war zwar freundlich, aber sie sprach kaum Englisch, die Verständigung klappte nur mühsam. Nein, dann blieb sie lieber für sich.
Ricarda entschied sich, kurz bei Khanom und Laona vorbeizuschauen, den schwierigen Elefanten,die von den anderen getrennt gehalten wurden. Sie wanderte los. Vielleicht war es doch ganz gut, dass sie in der Regenzeit hergekommen waren … saftig grün waren die Bergwälder um das Refuge umher, überall spross das Gras, alles roch so frisch und lebendig.
In einem Baum entdeckte sie einen Nashornvogel mit dem typischen gebogenen Schnabel, dem gelben Hals und schwarz-weißem Federkleid. Mit plumpen Bewegungen hüpfte er auf einem Ast umher und sah dabei aus wie ein Clown, der sich auf einen Baum verirrt hat und nun überlegt, was er dort eigentlich will.
Khanom zu finden gestaltete sich nicht weiter schwierig, er war noch immer an den gleichen Baum gekettet. Der Bulle schien Hunger zu haben. Er richtete seinen wuchtigen Körper auf, stellte sich auf die Hinterbeine und versuchte mit ausgestrecktem Rüssel an die Blätter des Baumes, an den er gekettet war, heranzukommen. Ein armdicker Ast krachte herunter, und Khanom zertrat ihn mit einem Fuß und schob die Reste in sein Maul. Danach entdeckte er ein Grasbüschel, welches er zuvor übersehen hatte, riss es aus dem Boden und klopfte die Wurzelerde an seinem Vorderbein ab. Dann warf er es sich ins Maul.
Ricarda blieb in sicherer Entfernung stehen und beobachtete Khanom. Wie konnten kleine, schwache Menschen wie sie oder Kaeo eine solche Urgewalt überhaupt beherrschen? Es war ein Wunder, dass die Elefanten sie auf ihrem Rücken duldeten. Obwohl –Pferde taten das ja auch, und auch sie waren stärker als jeder Mensch.
Ein trockenes Blatt knisterte und Ricarda bemerkte, dass jemand neben ihr stand. Ertappt wandte sie sich um. Aber es war nur Tao, Kaeos und Chanidas jüngerer Bruder. Er zeigte auf Khanom und verzog das Gesicht zu einer wütenden Grimasse, dann zählte er etwas an den Fingern ab, machte ein quakendes Geräusch und lächelte wieder. Ricarda rätselte – sollte das heißen, dass die Musth schon in ein paar Tagen vorbei war? Vielleicht bedeutete es aber auch, dass Khanom dreimal am Tag Kopfweh hatte und es in drei Tagen Frösche regnen würde oder irgendetwas ganz anderes.
Sie setzten sich nebeneinander auf den Waldboden und beobachteten den Elefantenbullen in einträchtigem Schweigen. Um ihm zu zeigen, dass sie wusste, was sein Name bedeutete, deutete Ricarda auf ihn und machte eine Schildkröte nach. Sie hatte keine Ahnung, ob er ihre Pantomime kapierte, aber immerhin fand er sie lustig. Wenn er lachte, bildeten sich Grübchen in seinen Wangen.
Und ganz besonders tiefe Grübchen waren da, als er es geschafft hatte, ihr heimlich einen Käfer auf den Hals zu setzen. Mit einem Schrei fuhr Ricarda hoch und Tao krümmte sich vor Lachen. Doch Ricarda revanchierte sich mit einer Ameise, die sie ihm in den Ausschnitt des T-Shirts schnippte. Kichernd schüttelte sich Tao und machte sich dann eifrig auf die Suche nach einem neuen Insekt, um das Spiel fortzusetzen.
Ricarda war enttäuscht, als Tao nach einer halben Stunde wieder davonwanderte. Na ja, dann würde sie eben noch bei Laona vorbeigehen.
Laona war nicht allein – Ruang war bei ihr. Geduldig redete er vom Rand des Geheges aus mit ihr; die Elefantin wirkte noch immer ängstlich und unruhig. Da Ricarda nicht sicher war, ob die beiden sie bemerkt hatten, ging sie still weiter. Sie hatte so viele Fragen – zum Beispiel, was das seltsame Vibrieren der Luft bedeutete, das sie manchmal in der Nähe der Elefanten bemerkte. Aber es war nicht leicht, mit Ruang zu sprechen, er hatte etwas von einem Lehrer an sich. Von einem, der die Macht hatte, über sie zu entscheiden, sie zurechtzuweisen.
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