Der Elefanten-Tempel
Also schlich sie lieber vorbei.
Sie gestand sich selbst nicht ein, dass sie eigentlich Ausschau hielt.
Auf einem der Trainingsgelände erkannte sie schon von Weitem durch die Blätter der Büsche, dass dort ein einzelner Elefant arbeitete. Waren das Devi und Nuan? Ihr Puls beschleunigte sich. Vorsichtig ging sie näher heran, damit sie besser sehen konnte.
Ja, sie waren es. Nuan dirigierte seine Elefantin mit der Stimme und dem ganzen Körper. Am Rand des Platzes waren ein paar Baumstämme gestapelt, mit denen die Tiere üben konnten. Gerade schlang Devi den Rüssel um einen Stamm, der wahrscheinlich so viel wog wie ein Kleinwagen, und hob ihn mühelos hoch.
Aus dem Schutz der Bäume heraus beobachtete Ricarda Nuan. Er hatte sein verdrecktes Hemd abgelegt, vielleicht zum Waschen gegeben, und die Sonne zeichnete ein flirrendes Muster aus Licht und Schatten auf seine Haut. Sein sehniger Körper war breit in den Schultern und schmal in der Taille, jeder Muskel zeichnete sich unter der glatten braunen Haut ab, die etwas dunkler war als die der anderen Thais.
Ricarda wagte nicht allzu lange, ihm zuzusehen. Sie wollte nicht, dass er sie bemerkte.
Was sollte ihm schon an ihr gefallen, an dem Farang- Mädchen? Die Haut fast so blass wie ein Camembert, die Stimme viel zu leise und von Elefanten kaum einen Schimmer.
Vergiss es, dachte Ricarda , du könntest genauso gut versuchen Mondlicht mit den Händen aufzufangen.
So lautlos wie möglich tappte sie durch den Wald davon.
Feuer und Wasser
»Willkommen!« Mit einer Pantomime bedeutete Gulap ihr und Sofia höflich, die Schuhe auszuziehen. Ein paar andere Sandalen und Sneakers standen schon am Eingang. Rasch stellte Ricarda ihre Schuhe dazu und tappte barfuß über den polierten Holzboden.
Gulap trug wie auch schon gestern einen bunten Wickelrock und eine hübsche Bluse. Ricarda war schleierhaft, wie sie es schaffte, bei den Kochorgien, die sie jeden Tag veranstaltete, so makellos auszusehen. In der Küche dampfte es aus mehreren Töpfen, und köstliche Gerüche nach Curry, Kokosmilch, Gemüse und gebratenem Fleisch schwebten durch den Raum.
»Wann kauft sie all das Zeug ein?«, fragte Sofia Chanida.
»Ach, ganz früh, um sechs Uhr ist sie schon auf dem Markt, wenn die Sonne gerade erst aufwacht!« Chanida lachte und legte den Brief beiseite, den sie gerade geschrieben hatte. »Um diese Zeit sind auch die Mönche aus den Tempeln unterwegs und machen die Runde, um Essensgaben von den Menschen entgegenzunehmen. Sie dürfen nicht selbst kochen und nur vor der Mittagszeit essen, danach nichts mehr.«
Das klang interessant. »Wir könnten morgen ja mal mitgehen«, schlug Ricarda schüchtern vor, aber Sofia stöhnte nur. »Um sechs Uhr? In den Ferien? Duspinnst. Aber ich würde gerne mal einen Tagesausflug nach Chiang Mai machen. Übermorgen hat Chanida schulfrei, da könnten wir alle zusammen fahren. Kommst du mit?«
Ricarda zögerte. Das hieß, einen ganzen Tag mit den Elefanten zu verpassen. Aber sie wollte auch gerne mehr von Chiang Mai sehen, immerhin war es eine der größten Städte Thailands. »Okay, ich bin dabei.«
Der große Raum des Haupthauses war fast leer, nur ein paar Matten und bestickte Kissen in leuchtenden Farben waren auf dem Boden verteilt. In der Mitte stand ein flacher Tisch und darauf waren ein paar blau-weiße Porzellanschälchen, Löffel und Gabeln angerichtet. Größtes Möbelstück des Hauses schien ein Fernseher zu sein, der auch jetzt angeschaltet war. Es lief eine bunte japanische Zeichentrickserie, offenbar eine Art Märchen. Erst auf den zweiten Blick bemerkte Ricarda die kleine Gestalt, die vor dem Bildschirm hockte. Es war nicht etwa Tao, sondern eine gebeugte alte Frau. »Meine Oma, Ya Gai«, stellte Chanida sie vor.
» Sawat-dii khaa «, begrüßte Ricarda sie höflich und die Frau wandte sich mit einem breiten Lächeln um. Entsetzt prallte Ricarda zurück. Auf den ersten Blick sah es aus, als sei ihr Mund nur eine rotschwarze Höhle. Erst auf den zweiten Blick erkannte Ricarda Zähne, auch sie schwarz verfärbt.
»Ist das Lepra?«, flüsterte Sofia beklommen.
»Betel«, sagte Chanida und zeigte auf kleine, inBlätter eingepackte Päckchen, die in einer Schale neben ihrer Oma standen. »Das kaut man. Früher galt es als ausgesprochen hübsch, dass man dadurch solche Zähne bekam.«
Bestens gelaunt bot ihnen Oma Gai mit ihren dünnen, altersfleckigen Fingern ein Paket Betel an. Sofia und Ricarda wichen zurück. »Äh, danke,
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