Der Elefanten-Tempel
Stunden Ruhe pro Nacht und manchmal legen sie sich dabei hin. Aber nicht, wenn sie krank sind. Dann wissen sie instinktiv, dass sie wahrscheinlich zu schwach sind, um wieder hochzukommen. Also lehnen sie sich nur gegen einen Baum und versuchen ab und zu ein Nickerchen zu machen.«
Dass Ruang so ausführlich auf ihre Fragen antwortete, machte Ricarda Mut. Er reichte für eine weitere Frage. »Was ist eigentlich mit seinen Stoßzähnen passiert?«
Ruang strich mit der Hand über einen der oberarmdicken Stoßzähne; an manchen Stellen war er braun verfärbt, vielleicht einfach nur dreckig. »Tipping. Sein Besitzer hat die vordere Hälfte abgetrennt und das Elfenbein verkauft.«
»Oh. Tut das weh?«
»Nein, wenn der Nerv nicht verletzt wird. Es hat nichts damit zu tun, dass er krank ist.«
Das mochte sein. Und wahrscheinlich war Tipping besser, als Elefanten wegen ihrer Stoßzähne umzubringen, so wie es in Afrika geschah. Doch Ricarda fühlte sich trotzdem abgestoßen davon, was die Gier der Menschen mit diesem jungen Elefanten gemacht hatte.
Er war so schwach, dass er nicht mal zuckte, als der Tierarzt ihm aus einer Vene am Ohr Blut abnahm und ihm nach einer ausgiebigen Untersuchung mehrere Medikamente verabreichte. Auch die wund gescheuerte Haut an seinem Bein desinfizierte und verband Dejan. Ricarda holte ein paar Eimer Wasser, damit der Elefant trinken konnte.
»Eigentlich müssten wir ihn bei uns weiterbehandeln, aber der Besitzer will ihn nicht weglassen, er hat Angst, dass er ihn nicht mehr zurückbekommt.« Ruang ließ sich seinen Ärger kaum anmerken, aberseine Nasenflügel bebten. »Wir holen Futter für ihn aus dem Wald, bleibst du bei ihm?«
Es war kein besonders schöner Gedanke, allein hierzubleiben, in diesem fremden Dorf, in dem kein Mensch ihre Sprache verstand. Ach was, ich bin nicht allein, dachte Ricarda trotzig und nickte als Antwort auf Ruangs Frage. Ihre Hand ruhte auf der flachen Schulter des Elefanten, und langsam und vorsichtig, mit einem Seufzer, streckte der junge Bulle sich und verlagerte sein Gewicht auf einen anderen säulendicken Vorderfuß. Seine Augen blickten wieder ins Leere. Ob er sich wohl nach seiner Herde sehnte, seiner Mutter, der Tante, die geholfen hatte ihn aufzuziehen, seinen Geschwistern? Über afrikanische Elefanten hatte sie gelesen, dass ihnen Blutsbande sehr wichtig waren, eine Herde blieb das ganze Leben lang zusammen. Das war nicht einmal bei menschlichen Familien so. Sofias Eltern zum Beispiel waren längst geschieden und Sofias Bruder studierte in Frankfurt.
Der Landrover brauste davon, Ricarda blieb zurück. Der Besitzer des Elefanten verschwand mit einem skeptisch-gleichgültigen Blick auf das Farang -Mädchen hinter seiner Hütte, um Holz zu hacken. Ricarda setzte sich auf den staubigen Boden, so nah, dass sie Phra Chans Rüssel berühren konnte. Es war ein sonniger Tag, ein gewaltiger Himmel spannte sich über dem Dorf und blitzte blau durch das Blätterdach, unter dem Ricarda hockte. Es roch nach Staub, dem Dung des Elefanten und dem süßlich schwerenDuft des Büschels Bananen neben ihr. Von fern hörte Ricarda einen Hund kläffen, Kinder lachen. Ab und zu das Geräusch der Axt und ein trockenes Splittern, wenn das Holz barst. Eine alte Frau ging mit zwei Eimern vorbei. Fliegen hockten auf der runzeligen Haut des Elefanten, hoben dann und wann ab, zogen ein paar Kreise, setzten sich wieder.
»Du musst etwas essen. Sonst hast du noch weniger Kraft. Probier das mal.« Ricarda reichte Phra Chan eine Banane, hoffte, dass er sie nehmen würde. Doch er beschnupperte sie nur kurz mit der Rüsselspitze, und wenn sie ihm die Banane ins Maul schob, ließ er sie wieder herausfallen. Geduldig hob Ricarda sie auf, wusch in einem Wassereimer den Dreck ab, gab sie dem Elefanten noch einmal. Ohne Erfolg.
Der junge Elefant stand bewegungslos wie ein Fels, ohne eine Regung ertrug er die Fliegen. Wartete, wartete. Auf den Tod oder darauf, dass die Schmerzen nachließen.
Ricarda ahnte, dass es ungewiss war, ob Phra Chan überleben konnte. Wenn er nichts fraß, würde er es nicht schaffen.
Ihre Gedanken schweiften ab, zu Sofia. An sie zu denken war ein dumpfer Schmerz. Die Fahrt mit Ruang bedeutete ein tolles Erlebnis, aber war sie es wert, dass ihre Freundschaft mit Sofia darunter litt? Verdammt, nein! Warum hatte sie sich nur so voreilig mit in den Geländewagen gesetzt? Es war mehr ein Reflex gewesen, aber hätte sie nicht einen Momentlang nachdenken können? Oder
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