Der elektrische Kuss - Roman
gegessen und getrunken hatten und der Fürst so tolerant war, dass Felix ihn schon deshalb hasste.
Luft, die nach nasser Erde und blühenden Bäumen duftete, schlug ihr entgegen und verdünnte den Geruch von Schweinefett, das die aufgetürmten Frisuren zusammenhielt, und der seit Jahren nicht gewaschenen Kleider und Körper. Der Kopf der Polonaise riss grölend die Flügeltüren zum Park auf, und man rannte Hand in Hand, dass der Kies spritzte.
Wussten Manteuffel, Professor Winkler oder sonst einer, dass Gewitter die gigantischsten Elektrisiermaschinen überhaupt waren? Charlotte beantwortete sich ihre Frage sofort mit Nein. Manteuffel konnte bis zu seinem Lebensende das Pedal treten, eine solche Reibung, wie sie in einem lilabraun gefärbten Himmel voller Blitz und Donner vorhanden war, würde er nie schaffen. Denn angenommen, so kombinierte sie, während die wilde Jagd durch den schwach illuminierten Park weiterging, den Leipziger Herren war bereits bekannt, dass man aus solch einer gewitterschweren Atmosphäre mit den üblichen Leitern Elektrizität gewinnen konnte, dann hätte Manteuffel es vorhin bei seinem Entzündungsversuch garantiert ausposaunt. Sich als göttlichen Blitzefänger und Feueranzünder in einem vor dem hiesigen Provinzadel zu gerieren, wäre eine Versuchung gewesen, der er nicht widerstanden hätte. Die eine Hälfte des Apfels, wahrscheinlich die rötere, gehörte also noch allein ihr.
»Was soll dieser Blödsinn, jetzt geht es ja wieder zurück ins Schloss«, tönte es wehklagend von Gagern, dem der Schweiß aus allen Poren tropfte.
»Seien Sie doch glücklich. Er ist unser Messias! Unser Messias!«, schrie ekstatisch der junge Mann über Charlottes Kopf hinweg zurück, und seine Augen, deren Pupillen sich weiteten, glänzten fiebrig.
»Ach was mein Junge, ich habe Seitenstechen. Hätten wir bloß wie immer Tricktrack und Pharao gespielt…«, keuchte Gagern, trabte aber notgedrungen weiter.
Der Anfang der Kette mit ihren inzwischen weit mehr als zweihundert über Treppenhaus und Parkweg gespannten Menschen staute zurück im Saal vor dem Podium. Gleich daneben stand das Ende der Kette in Gestalt eines gedrungenen Trompetenspielers der verlegen an sich herunterschaute. Manteuffel bearbeitete schon wieder das Fußpedal. Der Fürst schaute vom Podest auf die gewundene Schlange aus weißen Perücken, großen und flachen Busen, alten und jungen Schultern, zupfte sich mehrmals hintereinander an der Nasenspitze, was Zeichen dafür war, dass seine Nonchalance an ihm wie ein Morgenmantel herunter geglitten und er sehr erregt war. Amalia tätschelte ihn.
Charlottes rechte Hand wurde schraubstockhart von der des jungen Mannes gequetscht, denn der fühlte deutlich das Ende der irdischen Tage und die Trennung der erleuchteten Seelen von denen, die nicht in das gleißende Licht zu schauen wagten.
In der Sekunde, in der Manteuffel zwischen dem sich drehenden Bierglas und dem Trompeter, der zu dieser Aufgabe verdonnert worden war, eine Verbindung herstellte, sprang der nichtsahnende Kerl mit einem Satz in die Höhe und schrie gellend auf. Die Trompete, die er in der freien Hand gehalten hatte, fiel scheppernd zu Boden. Praktisch gleichzeitig mit ihm hüpfte und schrie die gesamte lange Menschenkette. Charlotte spürte den Schlag so, als ob jemand mit einer großen Gabel, deren Zinken lang, dünn und sehr spitz waren, ein paar Mal kräftig in sie hineinstieß. Dann war die Elektrifizierung auch schon wieder vorbei. Der Fürst hob beide Arme in die Luft und senkte sie wieder. Er umarmte Amalia, drückte Manteuffel an seine Brust, Amalia küsste den Fürsten und dann auch noch Manteuffel auf beide Wangen.
»Wir haben hier«, begann der Fürst zu sprechen und brauchte einige Momente, um seiner Rührung Herr zu werden, »wir haben hier Kräfte der Natur erblickt, die uns bisher gänzlich unbekannt gewesen waren.«
Die Menge klatschte, trampelte, jubelte. Charlotte sah, wie schräg links vor ihr eine mollige hübsche Frau mittleren Alters sich die Perücke stöhnend vom Kopf riss, so dass sie mit der engen Haube, die ihr eigenes Haar auf ihrem Schädel zusammenpresste, plötzlich sehr abstoßend aussah. Ein Mann, der offensichtlich ihrer war, schob sie so schnell es ging aus dem Saal. Ihr Kreischen war allerdings noch von den Gängen zu hören. Auch der junge Mann, der abwechselnd »Halleluja, Halleluja« und »Der Messias ist da, der Messias ist da« rief, wurde schleunigst fortgeschafft. Zwei Lakaien
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