Der Elfenthron - Brennan, H: Elfenthron
die endlich die Bäume erreicht hatten, war sie schon tief im Wald, umgeben von exotischen Pflanzen, und hatte überhaupt keine Schwierigkeiten gehabt, sie abzuschütteln. Eine Weile hatte bis auf die üblichen Hintergrundgeräusche völlige Stille geherrscht, aber jetzt verfolgte sie irgendetwas, und irgendwie wusste sie, dass es kein Wächter war.
Im Wald war es düster. Das Blätterdach filterte die Sonnenstrahlen in ein fahles grünes Licht, aber sobald sich ihre Augen einmal daran gewöhnt hatten, konnte sie gut genug sehen. Sie blieb stehen, um zu lauschen, und starrte hinter sich. Es gab kein Zeichen für eine Verfolgung, überhaupt kein anderes Geräusch. Allmählich entspannte sie sich wieder. Schließlich fing sie erneut an zu laufen.
Sie wusste nicht, wohin sie lief. Aber jetzt, da ihr die Flucht gelungen war, rasten ihre Gedanken. Sie musste unbedingt ihre Erinnerung zurückerlangen und herausfinden, wer sie war, wo sie war und was sie hier eigentlich machte. Nur dann konnte sie sich auch überlegen, was zu tun war. Sie ging in Gedanken durch, was sie wusste.
Sie wusste, dass sie anständige Kleidung trug: sauber, gut geschnitten und wahrscheinlich teuer, was dazu passen würde,dass sie die Nichte eines Lords war. Sie wusste, wie sie aussah – in ihrer Tasche war ein kleiner Spiegel. Aber trotz der Kleidung und des Spiegels hatte sie kein Geld, nicht einmal eine einzige Goldmünze. (Warum dachte sie an Gold und nicht an Silber oder Kupfer? Diese Tatsache stellte sie zur späteren Erörterung einstweilen zurück.) Vielleicht war sie arm und hatte die Kleidung bloß gestohlen, aber das glaubte sie eigentlich nicht: Die Sachen passten ihr einfach zu gut. So gut, dass sie vielleicht maßgeschneidert waren, was sie sogar noch teurer machen würde, als sie aussahen. Also war sie nicht arm, sondern jemand hatte ihr das Geld sowie alle weiteren Hinweise auf ihre Identität abgenommen.
Aber es gab ein paar Dinge, die sie ihr nicht wegnehmen konnten. Die Haut an ihren Händen war blass, weich und geschmeidig. Unter ihren Fingernägeln war kein Dreck. Das waren nicht die Hände einer Arbeiterin. Es waren auch nicht die Hände einer Händlerin, Künstlerin oder Gärtnerin. Dies waren gepflegte, geradezu verwöhnte Hände. Die Nichte eines Lords. Nun starrte sie auf ihre Füße. Sie hatte zierliche Füße – Elfenfüße hatte ihr Vater sie immer genannt –, die in modischen grünen Lederschuhen steckten. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, wo sie die Schuhe gekauft hatte, dann konzentrierte sie sich plötzlich auf den Gedanken, der ihr beinahe unbemerkt durch den Kopf gegangen war. Der Gedanke versetzte sie in Aufregung. Ihr Vater hatte gesagt, sie habe Elfenfüße! Sie erinnerte sich an ihren Vater!
Aber das tat sie eben doch nicht. Die Aufregung ebbte wieder ab. Sie konnte sich nicht an sein Gesicht erinnern oder daran, wer er war oder an irgendetwas anderes über ihn, sondern nur an diese eine Bemerkung, und sie konnte sich nicht einmal daran erinnern, wann er sie gemacht hatte. Vielleicht erst gestern, vielleicht schon vor langer Zeit. Es machte sie traurig, dass sie sich nicht an sein Gesicht erinnern konnte, aber zumindest hatte sie einen Vater, wer auch immer das war. Ein Vater, der eine Bemerkung über die Größe ihrer Füße gemacht hatte. Hatte sie auch eine Mutter? Als Antwort aufdiese Frage stellte sich kein Bild ein, kein Kommentar über ihre Füße oder sonst irgendetwas. Hatte sie ein Zuhause? Nichts. Sie dachte instinktiv an Gold, sie trug teure Kleider und Schuhe, ihre Hände zeigten kaum Anzeichen für körperliche Arbeit – sie war ein reiches Mädchen (aber ohne Bargeld), das Elfenfüße, hübsche Schuhe, gut geschnittene Kleidung und keinerlei Erinnerung daran hatte, wer sie eigentlich war.
Mella erreichte eine Lichtung, fühlte sich dort aber wie auf dem Präsentierteller und verließ sie gleich wieder auf einem schmalen Pfad, der sie zurück in den Schutz der Bäume führte. Sie lief jetzt an einem Bach entlang, der sich zu einem schmalen Fluss verbreiterte, dann folgte der Fluss ihrem Pfad nicht mehr und verschwand. Einen Augenblick später hörte sie ein regelmäßiges Dröhnen, das alle anderen Geräusche überlagerte. Es wurde lauter und lauter, bis sie am Ufer eines Sees stand, in den sich ein grandioser Wasserfall ergoss.
Das Seeufer war sogar noch schlimmer als die Lichtung im Wald – viel zu einsehbar, als dass es Schutz geboten hätte. Mella wandte sich
Weitere Kostenlose Bücher