Der Elfenthron - Brennan, H: Elfenthron
und ihr Gedächtnis wiederherstellen. Bald würde sie wieder wissen, wer sie war und wie sie hierhergekommen war. Bald wäre sie wieder in der Lage, ihr altes Leben fortzusetzen, und es hörte sich nach einem interessanten Leben an, wenn sie einen Lord als Onkel hatte. Was konnte man mehr wollen? Dennoch empfand sie ein Unbehagen, und als sie versuchte, sich das auszureden, wurde dieses Unbehagen noch größer. Onkel hin oder her, irgendetwas an Lord Hairstreak stieß sie regelrecht ab.
Sie hörte, wie die Sicherheitsmaßnahmen gelöst wurden, bevor sich die Tür öffnete und Hairstreak hereinkam. Hinter ihm war eine Frau. Beide lächelten. »Zeit für den Aufbruch«, sagte Lord Hairstreak fröhlich. Er hielt ihr seine Hand hin.
»Wer ist die da?«, fragte Mella misstrauisch. Die Frau sah passabel aus und war sehr gut angezogen, aber auf Mella hatte sie so ziemlich die gleiche Wirkung wie Lord Hairstreak, obwohl das auch daran liegen konnte, dass sie bei ihm war und offensichtlich mit ihm befreundet.
Hairstreak sah sich um und lächelte die Frau liebenswürdig an. »Dies ist deine Tante Aisling«, sagte er.
Mella starrte die Frau an. Sie war ein ganz kleines bisschen übergewichtig und in ihrem Lächeln lag etwas Selbstgefälliges. Onkel Hairstreak und Tante Aisling. »Sie ist deine Frau?«, fragte Mella. Tante Aisling sah zu jung aus, um Lord Hairstreaks Frau zu sein –
viel
zu jung.
Lord Hairstreaks Lächeln wurde breiter. Das Lächeln der Frau verwandelte sich in ein affektiertes Grinsen. »Noch … nicht!«, sagte Lord Hairstreak. Tante Aisling kicherte wie ein Schulmädchen.
Mella fragte sich jetzt, ob die Leute ihr wohl die Wahrheit sagten. Wie konnte sie sicher sein, dass Lord Hairstreak wirklich ihr Onkel war? Und wie konnte sie sicher sein, dass diese Aisling-Frau tatsächlich ihre Tante war? Wie konnte sie überhaupt sicher sein, dass Hairstreak ein Lord war oder dass er wirklich Hairstreak hieß? Er konnte irgendwer sein. Vielleicht war er ein Bandit oder ein Axt-Mörder oder irgendein grässlicher Perverser, der junge Mädchen mochte. Die Frau war vielleicht seine Komplizin. Wie konnte man ein Opfer wohl besser in Sicherheit wiegen? Erst löschte man ihr Gedächtnis aus, dann stellte man sich lässig als ihr Onkel und ihre Tante vor. Lullte ihr Misstrauen ein. Nur dass Mellas Misstrauen definitiv nicht eingelullt war. Sie hatte einfach keinen Beweis dafür, dass dieses unheimliche Pärchen das war, was es zu sein behauptete, überhaupt keinen Beweis.
Mella ignorierte die ausgestreckte Hand. Nach einer Pause zuckte Hairstreak mit den Schultern (falls sein Name wirklich »Hairstreak« war) und sagte: »Aisling, Liebste, vielleicht führst du sie nach draußen zum Ouklo. Du weißt ja, was zu tun ist, wenn du dort bist. Ich werde Ysabeau bitten, dafür zu sorgen, dass dich niemand außer unseren eigenen Wächtern zu sehen bekommt.«
Für einen Augenblick wich der selbstgefällige Ausdruck einem Stirnrunzeln. »Ouklo?«
»Mein Fahrzeug«, erklärte Lord Hairstreak. »So nennen wir im Elfenreich ein Fluggerät. Du kannst es nicht übersehen – es ist vergoldet.«
»Ooooh«, sagte Aisling. »Vergoldet.«
Mellas Gedanken rasten. Warum musste man Aisling diesen Begriff erläutern? Selbst mit ausgelöschtem Gedächtnis wusste Mella immer noch, was ein Ouklo war. Und warum sagte er:
So nennen wir das im Elfenreich
, als wüsste Aisling nicht, wie man die Dinge im Elfenreich nannte? Kam sie von irgendwo anders her? Sie war ganz ersichtlich kein Gestaltwandler und konnte daher nicht aus Hael stammen. Die einzige andere Möglichkeit war die Gegenwelt. Aber was machte eine Frau aus der Gegenwelt mit einem sogenannten Lord des Elfenreiches? Und diese Antwort Hairstreaks –
noch nicht
– legte doch nahe, dass sie, auch wenn sie derzeit nicht verheiratet waren, es bald sein würden. (Bei dieser Aussicht hatte diese Frau
derart
begeistert ausgesehen.) Warum würde ein Adliger des Elfenreiches ausgerechnet jemanden aus der Menschenwelt heiraten wollen? Das kam einfach nicht vor. Oder jedenfalls sehr selten. Irgendetwas mit diesem Paar stimmte nicht, stimmte ganz und gar nicht.
»Tante« Aisling (die auf gar keinen Fall Mellas Tante sein konnte) setzte ein falsches (das allerfalscheste) Lächeln auf und kam herüber, um Mella fest am Arm zu packen. »Komm schon, meine Liebe«, sagte sie. »Je schneller wir dich nach Hause bringen, umso zügiger können wir dein Gedächtnis wiederherstellen, dann
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