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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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im stehenden Verkehr und sah hundert U-Bahn-Passagiere aus den Tunneln emporkommen, die von Arbeitern in leuchtenden Westen begleitet wurden, und sie sah den Touristen beim Schnappschießen zu und dachte an ihre Reise nach Rom vor vielen Jahren,zum Studium und zur spirituellen Erneuerung, wo sie unter den großen Kuppeln umhergetaumelt und durch die Katakomben und Kirchenkeller gepirscht war, und daran dachte sie, als die Fahrgäste nach oben auf die Straße kamen, wie sie in der unterirdischen Kapelle einer Kapuzinerkirche gestanden hatte, wie sie den Blick nicht von den aufgestapelten Skeletten lassen konnte, den Mönchen, deren Fleisch einst diese Mittelfußknochen und Schenkelbeine und Schädel geziert hatte, haufenweise Schädel in Nischen und versteckten Winkeln, und sie wusste noch, wie sie rachsüchtig gedacht hatte, das sind die Toten, die aus der Erde emporkommen und die Lebenden geißeln und martern werden, um die Sünden der Lebenden zu bestrafen – Triumph des Todes, jawohl –, aber will sie das wirklich glauben, immer noch?
    Gracie schlüpfte unglücklich und rotwangig auf den Fahrersitz zurück.
    »Hab sie fast erwischt. Wir sind in den dichtesten Teil des Geländes hineingerannt, und dann wurde ich abgelenkt, genauer gesagt, wahnsinnig erschreckt, weil nämlich Fledermäuse, ich dachte, ich glaube es nicht, tatsächlich Fledermäuse – die einzigen fliegenden Säugetiere der Erde, ja?« Sie machte ironische Flatterbewegungen mit den Fingern. »Sie kamen aus einem Krater voller Krankenhausmüll hochgeschwirrt. Mit Körperflüssigkeiten verschmierte Verbände.«
    »Ich will’s nicht hören«, sagte Edgar.
    »Ich habe genug gebrauchte Spritzen gesehen, um so ungefähr den Todeswunsch von ganzen Städten zu erfüllen. Hunderte und Aberhunderte tote weiße Mäuse mit steifen, platten Körpern. Man konnte sie wegschnippen wie Baseballkärtchen.«
    Edgarstreckte die Finger in den milchigen Handschuhen.
    »Und Esmeralda irgendwo zwischen diesen Büschen und Schrottautos. Jede Wette, dass sie in einem Auto schläft«, sagte Gracie. »Was ist hier passiert? U-Bahn-Brand, wie es aussieht.«
    »Ja.«
    »Tote?«
    »Glaub nicht.«
    »Hätte ich sie bloß erwischt.«
    »Die schafft das schon«, sagte Edgar.
    »Da wär ich mir nicht so sicher.«
    »Sie kann sich um sich selber kümmern. Sie kennt die Landschaft. Sie ist schlau.«
    »Früher oder später«, sagte Gracie.
    »Sie passt auf. Sie ist schlau. Sie schafft das schon.«
    Und in dieser Nacht, unter der ersten Schicht kratzigen Schlafes, sah Edgar die U-Bahn-Passagiere wieder, erwachsene Männer, Frauen im gebärfähigen Alter, alle aus den rauchigen Tunneln gerettet, wie sie über Laufplanken krabbelten und über Niedergangstreppen zur Straße hochgeführt wurden – Väter und Mütter, die verlorenen Verwandten wiedergefunden und versammelt, am Oberkörper herausgezogen, mit rausgerutschtem Hemd, an die Oberfläche geführt von kleinen, gesichtslosen Figuren mit phosphoreszierenden Flügeln.
    Und ein paar Wochen später pflügten Edgar und Grace durch verrottendes Laub auf das Ufer des Bronx River zu, nah der Stadtgrenze, wo ein demolierter Honda im Unterholz entsorgt worden war, Nummernschilder weg, Reifen weg,Fenster sauber ausgebaut, Rattenkratzereien im Handschuhfach, und nachdem sie die Einzelheiten des aufgegebenen Fahrzeugs notiert hatten und wieder in den Kleinbus gestiegen waren, überkam Edgar ein schreckliches Gefühl, eine jener Vorahnungen aus lang vergangenen Zeiten, als sie schlimme Dinge bei einem Schüler, einem Elternteil oder einer anderen Nonne erspürte und aufwirbelnde Informationen auf den staubigen Korridoren des Klosters auffing oder im Lagerraum der Schule, der nach Bleistiftholz und Schreibkladden roch, oder in der Kirche, die an die Schule grenzte, irgendein dunkles Wissen aus dem Rauch, der dem schwingenden Weihrauchfass der Messdiener entströmte, denn ihr schwebten mit dem Knarren alter Dielenböden und dem Geruch von Kleidern, von klammen Kamelhaarmänteln anderer Leute Einsichten zu, sie zog Nachrichten und Gerüchte und Katastrophen in die makellosen Baumwollporen ihres Habits und Schleiers.
    Nicht dass sie behaupten würde, ein Leben ohne Zweifel stünde in ihrer Macht.
    Sie zweifelte und sie putzte. In jener Nacht beugte sie sich über das Waschbecken in ihrem Zimmer und reinigte jede Borste der Scheuerbürste mit Stahlwolle, die sie mit Desinfektionsmittel getränkt hatte. Aber das hieß, dass sie die Flasche

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