Der Engel Esmeralda
Die?«
»Du hast Kontakte hier im Viertel wie niemand sonst.«
»Was für ein Viertel? Das Viertel ist da drüben. Hier ist der Vogel. Ich kann grade mal die Kids dazu kriegen, dass sie ein Wort richtig schreiben, wenn sie es an die Scheißmauer sprayen. Zu meiner Zeit haben wir U-Bahn-Wagen im Dunkeln bemalt, und kein Buchstabe war verschrieben.«
»Richtig schreiben, wen kümmert’s?«, sagte Gracie.
Ismael wechselte einen heimlichen Blick mit Schwester Edgar, schenkte ihr ein Schieflächeln aus seiner Geschichte der Schiefzähne.Sie fühlte sich schwach und verloren. Jetzt, wo der Schrecken lokal geworden ist, wie sollen wir da leben?, dachte sie. Der große Schattenwerfer ist abgebaut – kein in den Himmel geschossenes Objekt mehr, benannt nach einer griechischen Göttin auf einem Kelchkrug, 500 v. Chr. Was ist der Schrecken heute? Ein lautes Geräusch auf dem Bürgersteig ganz in der Nähe, ein Dieb mit einem Schälmesser oder das Stottern gelegentlicher Schüsse aus einem vorbeifahrenden Auto. Jemand, der dein Kind wegzerrt. Alte Ängste wiederbelebt, die rauben mir mein Kind, die kommen in mein Haus, wenn ich schlafe, und schneiden mir das Herz heraus, weil sie mit Satan in Verbindung stehen. Für den Rest jenes Tages ließ sie Gracie ihre Trauer und Erschöpfung tragen, und den Tag danach und die zwei oder drei Wochen danach auch noch. Ihr war, als stürzte sie in eine Krise, als könnte sie die Welt als bloßen Klecks leerer Materie sehen, der blindlings hier einen Smaragdplaneten bildet, dort einen toten Stern, mit Zufallsmüll dazwischen. Die Klarheit des großen Entwurfs fehlte in ihrem Schlaf, Form und Proportion, die Macht, die Ehrfurcht und Nervenkitzel hervorruft. Als Gracie und die Crew Essen in den Sozialbauten verteilten, wartete Edgar im Kleinbus, sie war die Nonne im Kleinbus, unfähig, den Leuten gegenüberzutreten, die Gründe für Esmeralda brauchten.
Barmherzige Mutter, bitte für uns. Dreihundert Tage.
Dann fingen die Geschichten an, Straße um Straße verbreiteten sich die Gerüchte, durch Kirchen und Minimarkets, vielleicht etwas verzerrt, hier und da falsch weitergegeben, aber nicht völlig sinnentstellt – es war klar, dass die Leute über denselben unheimlichen Vorfall sprachen. Und einige gingen hin und gafften und erzählten es weiter, stachelten die Hoffnungan, die wächst, wenn Dinge ihre Grenzen überschreiten.
Sie trafen sich nach der Abenddämmerung an einem windigen Ort zwischen Brückenauffahrten, sieben oder acht Personen, von einer oder zwei benachrichtigt, dann waren es dreißig, angezogen von den sieben, dann eine dichte, stumme Menge, die immer größer, aber nicht weniger ehrfürchtig wurde, zweihundert Menschen auf einer Verkehrsinsel in der allertiefsten Bronx eingekeilt, wo die Schnellbahn im Bogen vom Großmarkt an der Endstation herunterführt und die Eisenbahndepots sich bis zur Meerenge erstrecken, das ganze Industrieelend, das einem das Herz bricht mit seiner wehmütigen Weltwirtschaftskrisenschönheit – die Auffahrtrampen, wo hohes Unkraut sprießt, und die alte Eisenbahnbrücke, die den Harlem River überspannt, einen Tagebauturm an jedem Ende, der womöglich ein wenig im hartnäckigen Wind schwankt.
Sie kamen schon eingekeilt an, zu sechst oder siebt in einem Auto, falls sie eins hatten, parkten schief auf einem ansteigenden Seitenstreifen oder in den Nebenstraßen zwischen den Fabriken und keilten sich auf die Betoninsel zwischen der Schnellstraße und dem zerlöcherten Boulevard, spürten den Wind hereinfrösteln und starrten über den Strom des üblichen Saus-und-Braus-Verkehrs hinweg zu einer Plakatwand, die in der Düsternis schwebte – zu einem Werbeschild an einem Gerüst hoch über dem Flussufer, es sollte die Blicke der übersättigten Pendler in den Zügen anlocken, die pausenlos aus den nördlichen Vorstädten ins Dickicht von Geld und Gier Manhattans fuhren.
Im Refektorium saß Edgar Gracie gegenüber. Sie aß ihre Mahlzeit, ohne sie zu schmecken, denn sie hatte vor Jahren beschlossen,dass es nicht um den Geschmack geht. Sondern darum, den Teller leer zu essen.
Gracie sagte: »Nein, bitte, das kannst du nicht.«
»Nur mal sehen.«
»Nein, nein, nein, nein.«
»Ich will es selber sehen.«
»Das ist Sensationsmache. Die übelste Sorte Aberglaube aus der Regenbogenpresse. Grauenhaft. Ein völliger, was denn? Ein völliger Verzicht, verstehst du? Sei vernünftig. Verzichte nicht freiwillig auf deine Vernunft.«
»Vielleicht sehen
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