Der Engel Esmeralda
trat. Sie hörten Gracie zu, die sie anschrie. Sie sahen einen Mann vorbeikommen, der batteriebetriebene Windrädchen verkaufte, grellfarbige Mühlenflügel, die an Stäben befestigt waren, er hielt ungefähr ein Dutzend davon in den Händen, weitere ragten aus seinen Taschen und unter seinen Armen hervor, und rings um ihn wirbelten Plastikrotoren – ein älterer Schwarzer mit gelber Scull Cap. Sie sahen diesen Mann. Sie sahen den Dschungel aus Ailanthusbäumen und die Blechhaufen der abgewrackten Autos, und sie schauten sich die sechs Stockwerke hohe Fläche mit den gemalten Engeln an, über deren Cherubsköpfen Textbänder schwebten.
Und Gracie brüllte: »Das hier ist real, es ist real.« Sie brüllte: »Brüssel ist surreal. Mailand ist surreal. Das hier ist als Einziges real. Die Bronx ist real.«
Eine Touristin kaufte ein Windrad und stieg wieder in den Bus. Gracie zog brummelnd ab. In Europa haben die Nonnen Hauben, die aussehen wie freitragende Strandhausdächer. Das ist surreal, sagte sie. Nicht weit vom Vogel bildete sich ein Verkehrsstau. Die beiden Frauen saßen gedankenverloren da. Edgar beobachtete Kinder auf dem Heimweg von der Schule, sie atmeten Luft ein, die aus den Ozeanen aufsteigt und vom Wind in diese Straße am Rande des Kontinents geblasen wird. Wehe dem Kind mit schmutzigen Fingernägeln. Früher trommelte sie mit einem Lineal auf die Fingerknöchelihrer Fünftklässler, wenn die Hände nicht blitzblank waren wie frisch geprägte Zehnermünzen.
Ein Getöse erhob sich ringsum, verdrießliche Hupen und Martinshörner und das große Saurierbrüllen der Feuerwehrsirenen.
»Schwester, manchmal frag ich mich, warum du all das auf dich nimmst«, sagte Gracie. »Du hast dir Ruhe und Frieden verdient. Du könntest auf dem Land leben und Entwicklungsarbeit für den Orden leisten. Wie gern würde ich mit einem Krimi im Rosengarten sitzen, zu meinen Füßen den alten Pepper.« Old Pepper war der Kater im Mutterhaus auf dem Land, oben im Staat New York. »Du könntest mittags am Weiher picknicken.«
Edgars freudloses inneres Grinsen schwebte irgendwo hinten in der Nähe ihres Gaumens. Sie sehnte sich nicht nach einem Leben auf dem Land. Dies war die Wahrheit der Welt, genau hier, hier fühlte ihre Seele sich zu Hause – und sie selbst, sie sah sich, das verschreckte Kind, das dem realen Terror der Straße entgegentreten musste, um die schleichende Zerstörung in ihrem Innern zu heilen. Wo sollte sie sonst ihre Arbeit tun als unter der kühnen, aberwitzigen Mauer von Ismael Muñoz?
Dann sprang Gracie aus dem Kleinbus. Sie sprang raus aus dem Gurt, aus dem Bus, sie rannte die Straße hinunter. Die Tür stand offen. Edgar begriff sofort. Sie drehte sich um und sah das Mädchen, Esmeralda, einen halben Block vor Gracie auf den Vogel zulaufen. Gracie stürmte in ihren klobigen Schuhen und ihrem Schreckschraubenrock zwischen den Autos durch, folgte dem Mädchen um eine Ecke, wo der Reisebus im Verkehr festsaß. Die Touristen beobachteten die rennenden Gestalten. Edgar konnte sehen, wie sich ihre Köpfeunisono umdrehten, wie die Windrädchen in den Fenstern wirbelten.
Alle Geräusche sammelten sich am dunkler werdenden Himmel.
Sie glaubte, die Touristen zu begreifen. Man reist an einen Ort nicht wegen der Museen und Sonnenuntergänge, sondern wegen der Ruinen, des ausgebombten Geländes, der moosbewachsenen Erinnerung an Folter und Krieg. Notfallkrankenwagen stauten sich etwa anderthalb Block entfernt. Sie sah Arbeiter, die U-Bahn-Gitter inmitten blasser Rauchschwaden aufstemmten, und sie sprach ein hastiges Gebet, als Akt der Hoffnung, drei Jahre Ablass. Dann tauchten unterschiedslos Köpfe und Oberkörper auf, Menschen kamen an die Luft mit verzerrt aufgerissenen Mündern, panischem Keuchen. Ein Kurzschluss, ein U-Bahn-Brand. Im Rückspiegel entdeckte sie Touristen, die aus dem Bus stiegen und sich die Straße entlangtasteten, die Kamera im Anschlag. Und die vorbeikommenden Schulkinder, kaum interessiert – sie sahen ständig Aufnahmen von tatsächlichen Tötungen im Fernsehen. Aber was wusste sie schon, eine alte Frau, die immer noch freitags Fisch aß und sich nach der Messe auf Latein sehnte? Sie war wesentlich unwürdiger als Schwester Grace. Gracie war eine Soldatin, eine Kämpferin für den Wert des Menschen. Edgar war im Grunde eine subalterne Sonderbeamtin der Sicherheitspolizei, die eine Reihe von Gesetzen und Verboten zu schützen hatte. Sie hörte das rhythmische Jaulen der Polizeiwagen
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