Der Engel Esmeralda
sie aber wirklich das Mädchen.«
»Weißt du, was das ist? Das ist typisch Spätnachrichten. Die lokalen Nachrichten um elf, wo die grotesken Storys alle hübsch verteilt werden, damit du auch die ganze halbe Stunde dranbleibst.«
»Ich glaube, ich muss da hin«, sagte Edgar.
»Das ist etwas für die Armen, sollen die sich dem aussetzen, es einschätzen und begreifen, in diesem Zusammenhang müssen wir das Ganze sehen. Die Armen brauchen Visionen, klar?«
»Ich glaube, du sprichst herablassend über die Menschen, die du liebst«, sagte Edgar leise.
»Das ist nicht fair.«
»Du sagst die Armen. Wem sollen Heilige denn sonst erscheinen? Erscheinen Heilige und Engel etwa Bankdirektoren? Iss deine Möhren.«
»Spätnachrichten. Die widerliche Ausbeutung eines grauenhaften Kindermordes.«
»Wer beutet denn aus? Keiner beutet aus«, sagte Edgar. »Die Leute gehen dorthin, um zu weinen, um zu glauben.«
»Sowerden die Nachrichten dermaßen mächtig, dass sie weder Fernsehen noch Zeitungen brauchen. Sie existieren nur noch in der Wahrnehmung der Leute. Sie werden real oder pseudoreal, und so glauben die Leute, die würden die Wirklichkeit sehen, während sie etwas sehen, das sie erfinden. Das sind Nachrichten ohne Medien.«
Edgar aß ihr Brot.
»Ich bin älter als der Papst. Ich hätte nie gedacht, dass ich lange genug leben würde, um älter zu werden als ein Papst, und ich glaube, ich muss mir das ansehen.«
»Bilder lügen«, sagte Gracie.
»Ich glaube, ich muss das sehen.«
»Betet zu Heiligen, nicht zu Bildern.«
»Ich glaube, ich muss da hin.«
»Das kannst du nicht. Das ist verrückt. Geh nicht, Schwester.«
Aber Edgar ging. Sie ging mit einer schüchternen, stillen Person namens Janis Loudermilk hin, die eine Zahnspange wegen der Lücken trug. Sie nahmen den Bus und die U-Bahn und gingen die letzten drei Blocks, und Schwester Jan hatte ein Handy dabei, falls sie Hilfe brauchten.
Ein Mond in Krapporange hing über der Stadt.
Menschen im Blendlicht vorbeifahrender Autos, Hunderte auf der Insel zusammengeschart, ihre eigenen Autos schief und schielend geparkt, in gefährlicher Nähe zum rasenden Verkehr. Die Nonnen sausten über den Boulevard und zwängten sich auf die Insel, und die Menschen machten ihnen Platz, zusammengedrängte Körpermassen taten sich auf, damit sie bequem stehen konnten.
Sie folgten dem aufgeheizten Starren der Menge. Sie standen da und schauten. Die Plakatwand war ungleichmäßig beleuchtet,stellenweise trübe, mehrere Birnen waren durchgebrannt und nicht erneuert worden, aber die Hauptelemente waren deutlich erkennbar, eine breite Kaskade Orangensaft ergoss sich diagonal von oben rechts in eine Karaffe, von einer Hand links unten gehalten – die perfekt geformte Hand einer weiblichen weißen Frau aus der mittleren Vorstadt. Ferne Weiden und ein verschwommener Seeblick markierten den sozialen Rahmen. Aber der Saft zog das Auge an, dick und fruchtfleischig, und seine Rötelglut passte zu dem Krappmond. Die ersten, einzeln gemalten Tropfen spritzten mit leichtem Streunebel an den Boden der Karaffe, jeder Klacks mit der Pedanterie eines puristischen Gemäldes ausgeführt. Welche Verschwendung von Mühe und Technik, an keiner Raffinesse gespart – das Gegenstück, dachte Edgar, zu mittelalterlicher Kirchenbaukunst. Und die Drittelliterdosen Minute Maid, die am Boden des Plakates aufgereiht standen, hundert identische Dosen, so vertraut in Design, Farbe und Schrifttype, dass sie Persönlichkeit hatten, die gesellige Goldigkeit kleiner oranger Männchen.
Edgar wusste nicht, wie lange sie warten sollten oder was genau passieren sollte. Transportlaster rauschten in der rumpelnden Dämmerung vorbei. Sie ließ ihre Augen über die Menge wandern. Arbeiter, dachte sie. Arbeitende Frauen, Ladenbesitzer, vielleicht einige Streuner und Hausbesetzer, aber nicht viele, und dann bemerkte sie eine Gruppe weiter vorn, genau in die Bugform der Insel eingepasst – das waren die Charismatiker aus dem obersten Stock des Hauses im Vogel, überwiegend in wallendes Weiß gekleidet, röhrenförmige Frauen, gertenschlanke Männer mit Dreadlocks. Die Menge war geduldig, sie selbst war es nicht, sie merkte, wie verkrampft sie war vor lauter bösen Vorahnungen, wie sie imKopf Gracie reden hörte. Flugzeuge stürzten aus dem Dunkel auf den Flughafen zu, zerteilten die Luft mit gedrosseltem Dröhnen. Sie und Schwester Jan wechselten einen traurigen Blick. Sie standen da und schauten. Sie starrten dämlich
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