Der Engel Esmeralda
bei diesen mangelernährten Kindern, manche ohne Eltern, einige sichtbar schwanger – es gab mindestens vier Mädchen in der Mannschaft. Genau das hätte sie am liebsten getan. Sie hätte sie gerne in einen Raum mit einer Tafel verfrachtet und sie mit Buchstabieren und Zeichensetzung traktiert, bis die Köpfe rauchten. Ihnen den Baltimore-Katechismus eingetrichtert. Richtig oder falsch, ja oder nein, füllt die Lücken aus. Sie hatte mit Ismael darüber geredet, und er hatte ein bemüht interessiertes Gesicht aufgesetzt, heftiggenickt und heuchlerisch versichert, er wolle sich was überlegen.
»Ich bezahle euch nächstes Mal«, sagte Ismael. »Ich hab ein paar Sachen am Laufen, da brauche ich das Kapital für.«
»Was für Sachen?« fragte Gracie.
»Ich will hier Heizung und Strom reinlegen. Und Kabelfernsehen anzapfen, für wenn die Knicks spielen.«
Edgar stand am hinteren Ende des Raums an einem Fenster, das nach vorn hinausging, und sie sah jemanden zwischen den Pappeln und Ailanthusbäumen, im überwuchertsten Teil des trümmerübersäten Geländes. Ein Mädchen in einer zu großen Strickjacke und gestreifter Hose wühlte im Gestrüpp, vielleicht nach etwas Essbarem oder Kleidung. Edgar beobachtete sie, eine schlaksige Kleine, die eine katzenhafte Intelligenz an sich hatte, eine Sicherheit in den Bewegungen und Schritten – sie wirkte unbeholfen, aber hellwach, sah ungewaschen, aber irgendwie völlig sauber aus, erdsauber und hungrig und flink. Irgendetwas an ihr faszinierte die Nonne, etwas Verzaubertes, eine vorbildhafte, standhafte Anmut.
Edgar sagte etwas, und genau in diesem Augenblick schlüpfte die Kleine in ein Labyrinth von Autowracks hinein, und als Gracie das Fenster erreicht hatte, war sie nur noch ein Wimpernschlag, verloren in der flachen Ruine eines alten Spritzenhauses.
»Wer ist dieses Mädchen?«, fragte Gracie. »Wer ist da draußen im Gelände und versteckt sich vor den Menschen?«
Ismael warf einen Blick auf seine Mannschaft, und einer von ihnen meldete sich zu Wort, ein zu klein geratener Junge in besprühten Jeans, dunkelhäutig und ohne Hemd.
»Esmeralda. Keiner weiß, wo ihre Mutter abgeblieben is.«
Graciesagte: »Kannst du das Mädchen suchen und dann Bruder Mike Bescheid sagen?«
»Die is echt fix, die Kleine, is die.«
Zustimmendes Gemurmel.
»Die is ne rasende Irre is die.«
Kichern, kurz.
»Warum ist ihre Mutter fortgegangen?«
»Hängt anner Nadel dran. Die sind un, äh, berechenbar.«
Wenn ihr mich lasst, bring ich euch bei, keinen Satz mit der Wiederholung von Subjekt und Prädikat zu beenden, dachte Edgar, und rette euch das Leben.
Ismael sagte: »Vielleicht kommt die Mutter wieder. Wenn das schlechte Gewissen an ihr frisst. Musst positiv denken.«
»Tu ich«, sagte Gracie. »Die ganze Zeit.«
»Aber in Wirklichkeit gibt es Kids, denen geht’s besser ohne Mutter oder Vater. Weil die Mutter oder der Vater ihre Sicherheit gefährden.«
»Wenn einer Esmeralda sieht«, sagte Gracie, »bringt sie zu Bruder Mike oder haltet sie fest, aber richtig festhalten, bis ich es hierherschaffe und mit ihr reden kann. Sie ist zu jung, um allein zu sein, sogar um in der Mannschaft zu leben. Bruder Mike sagt, sie ist zwölf.«
»Zwölf ist nicht so jung«, meinte Ismael. »Einer meiner besten Schreiber, er macht Wildstyle, der ist genau zwölf, plusminus. Juano. Ich lass ihn an einem Seil runter, für die komplizierten Buchstaben.«
»Wann kriegen wir unser Geld?«, fragte Gracie.
»Nächstes Mal ganz bestimmt. Von diesen Schrottautos bleibt bei mir praktisch nix hängen. Mein Anteil ist sehr Minimum. Ich will irgendwann außerhalb von Brooklyn expandieren.Meine Autos in eins von diesen Aufschwungländern verkaufen, die die Bombe bauen.«
»Die was? Ich glaub nicht, dass die Schrottautos brauchen«, sagte Gracie. »Ich glaube, die brauchen waffenfähiges Uranium.«
»Die Japaner haben ihre Marine aus der Sixth-Avenue-Hochbahn gebaut. Kennt ihr die Geschichte? Ein Tag is Schrott, nächsten Tag ein Flieger, der vom Flugzeugträger abhebt. Hey, wundert euch nich, wenn mein Schrott mal in Nord, äh, Korea landet.«
Edgar fing das Grinsen auf Gracies Gesicht auf. Edgar grinste nicht. Sie konnte dieses Thema nicht auf die leichte Schulter nehmen, niemals. Sie war eine Nonne des Kalten Krieges, die einst ihre Zimmerwände mit Alufolie verkleidet hatte, zum Schutz gegen radioaktive Strahlung von Kommunistenbomben. Nicht dass sie die Vorstellung eines Krieges nicht spannend
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