Der Engel Esmeralda
finden konnte. Selbst jetzt, da die UDSSR in alphabetischer Reihenfolge zusammengebrochen war, die massiven Buchstaben umgestürzt wie kyrillische Statuen, erschien das Bild so manchen Atompilzes auf der Filmleinwand ihrer Haut, versuchte sie immer noch, sich den großen Knall auszumalen.
Sie gingen nach unten zum Kleinbus, die Nonnen und drei Jugendliche, und zusammen mit den beiden, die schon auf der Straße waren, begannen sie mit der Verteilung des Essens, zuerst an die schwersten Fälle aus den Sozialwohnungen.
Sie fuhren mit dem Fahrstuhl und durchschritten die langen Korridore. Hinter jeder Tür eine Kombination aus unvorstellbaren Leben, mit Geschichten und Erinnerungen und Zuchtfischen, die in staubigen Goldfischgläsern herumschwammen. Edgar ging voraus, die fünf Jugendlichen im Gänsemarschhinter ihr her, jeder mit zwei Tüten Essen, und Gracie als Schlusslicht, auch sie trug Essen und rief die Wohnungsnummern der Leute auf der Liste aus.
Sie sprachen mit einer älteren, allein lebenden Frau, einer Diabetikerin mit amputiertem Bein.
Sie sahen einen Mann mit Epilepsie.
Sie sprachen mit zwei blinden Frauen, die zusammenlebten und sich einen Blindenhund teilten.
Sie sahen eine Frau im Rollstuhl, die ein »Fuck New York«-T-Shirt trug. Gracie sagte, die würde das Essen, das sie ihr gaben, garantiert gleich gegen Heroin eintauschen, den dreckigsten Stoff von der Straße. Die Begleitmannschaft sah sich das stirnrunzelnd an. Gracie reckte das Kinn vor, kniff die blassen Augen zusammen und reichte der Frau das Essen trotzdem. Darüber gab es Streit, nicht nur mit den Nonnen, auch innerhalb der Mannschaft. Es war Schwester Grace gegen alle. Dabei fand nicht mal die Rollstuhlfrau, dass sie das Essen kriegen sollte.
Sie sahen einen Mann, der Krebs hatte; er versuchte, Schwester Edgars Latexhände zu küssen.
Sie sahen fünf kleine Kinder, auf die ein Zehnjähriger aufpasste, alle auf einem Bett zusammengeknäult.
Sie gingen die Korridore entlang. Die Jugendlichen holten neues Essen aus dem Kleinbus und gingen im Gänsemarsch im bleichen Licht die Korridore entlang.
Sie sprachen mit einer schwangeren Frau, die eine Seifenoper auf Spanisch guckte. Edgar erklärte ihr, dass ein Kind, das nach der Taufe stirbt, direkt in den Himmel kommt. Die Frau war beeindruckt. Wenn ein Kind in Gefahr sei und kein Priester in der Nähe, sagte Edgar, dann könne die Frau auch selbst die Taufe vornehmen. Wie? Einfach dem Kind normalesWasser auf die Stirn gießen und sagen: »Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.« Die Frau wiederholte die Worte auf Spanisch und Englisch, und alle fühlten sich gleich besser.
Sie gingen die Korridore entlang, vorbei an hundert verschlossenen Türen, und Edgar dachte an all die Säuglinge in der Vorhölle, ungetauft, an die Babys im Halbnichts, höllennah, die Nichtbabys der Abtreibung, eine kosmische Wolke zermatschter Föten, die in den Ringen des Saturn umhertrieben, oder an die ohne Immunsystem geborenen Babys, an die von Computern großgezogenen Brutkastenkinder oder die süchtig geborenen Babys – sie sah sie ständig, wasserköpfige cracksüchtige Neugeborene, die aussahen, als kämen sie direkt aus einer Bauernsage.
Sie hörten Abfall den Müllschlucker hinunterkrachen und gingen im Gänsemarsch hintereinander her, drei Jungen und zwei Mädchen, die einen Körper mit den Nonnen bildeten, eine einzelne kreuzlahme Gestalt mit vielen beweglichen Teilen. Sie fuhren mit den Fahrstühlen nach unten und beendeten ihre Lieferungen in einer Mietshausanlage, wo Spanplatten die zerbrochenen Glasscheiben in den Eingangstüren ersetzten.
Gracie setzte die Mannschaft am Vogel ab, gerade als ein Bus vorfuhr. Was soll das denn, ist es zu fassen? Ein Reisebus in Karnevalsfarben, und auf dem Streifen oberhalb der Windschutzscheibe ein Schild mit der Aufschrift South Bronx Surreal. Gracie atmete heftiger. Etwa dreißig Europäer mit umgehängten Kameras traten scheu auf den Bürgersteig vor den verrammelten Geschäften und geschlossenen Fabriken, und sie starrten über die Straße auf das verlassene Mietshaus in mittlerer Entfernung.
Gracielief fast Amok, sie steckte den Kopf aus dem Fenster des Kleinbusses und schrie: »Das ist nicht surreal. Es ist real, wirklich echt. Ihr macht es surreal, indem ihr hierherkommt. Euer Bus ist surreal. Ihr seid surreal.«
Ein Mönch fuhr auf einem altersschwachen Fahrrad vorbei. Die Touristen sahen ihm zu, wie er in die Pedale
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