Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo

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Desinfektionsmittel in etwas Stärkeres tauchen musste als Desinfektionsmittel. Das hatte sie unterlassen. Das hatte sie unterlassen, weil die Regression unendlich war. Und die Regression war unendlich, weil sie so heißt: unendliche Regression. Unverkennbar, wie der Zweifel zu einer Krankheit wird, die sich jenseits der aufdringlichen Auswüchse der Materie ausbreitet, in die erhabenen Regionen hinein, wo die Worte mit sich selber spielen.
    Dannein neuer Tag, ein neuer Morgen. Sie saß in dem Kleinbus und sah Schwester Grace aus dem Konvent kommen, den rollenden Gang, die kurzen Beine, den stämmigen Körper. Gracies Gesicht war abgewandt, als sie sich um die Vorderseite des Fahrzeugs schob und die Tür auf der Fahrerseite öffnete.
    Sie stieg ein und packte mit beiden Händen das Steuerrad, starrte geradeaus.
    »Ich hab einen Anruf vom Kloster bekommen.«
    Dann griff sie nach der Tür und schloss sie. Sie packte das Steuerrad wieder.
    »Jemand hat Esmeralda vergewaltigt und von einem Dach geworfen.«
    Sie ließ den Motor an.
    »Ich sitze da und denke, wen schlag ich tot?«
    Sie sah Edgar kurz an, legte dann einen Gang ein.
    »Denn das ist die einzige Frage, die ich mir stellen kann, ohne völlig auseinanderzufallen.«
    Sie fuhren südwärts durch kleine Straßen, die Backsteinhäuser leicht dunstig im Morgenlicht. Edgar spürte den Sturm von Gracies Wut und Schmerz – sie hatte sich dem Mädchen zwei- oder dreimal genähert in den letzten Wochen, hatte aus einiger Entfernung mit ihr gesprochen und eine Tüte mit Kleidern in die wilden Kermesbeeren geworfen, wo Esmeralda stand. Sie verharrten den ganzen Weg schweigend, während die alte Nonne im Geist Fragen und Antworten aus dem Baltimore-Katechismus aufsagte. Die Kraft dieser Übungen, die eine Form des Dauergebets darstellten, ruhte in den Stimmen, die ihre eigene begleiteten, Kinderstimmen, die über Jahrzehnte hinweg antworteten, silbenklar, ein Panflötengesang, die vergeistigte Musik ihres Lebens.Frage und Antwort. Was für einen tieferen Dialog könnte ein aufrechter Kopf ersinnen? Sie legte ihre Hand auf Gracies Hand am Steuerrad und ließ sie für die Dauer eines digitalen Tickens der Armaturenbrettuhr dort liegen. Wer hat uns erschaffen? Gott hat uns erschaffen. Diese helläugigen Gesichter voller Glauben. Wer ist Gott? Gott ist das Höhere Wesen, das alle Dinge erschaffen hat. Ihre Arme waren müde. Ihre Arme waren schwer und tot, und sie hatte sich bis zur Lektion 12 vorgekämpft, als die Sozialbauten am Horizont auftauchten, die oberen Fenster weiß vom Spiel der Sonne in dem breiten, dunklen Gesicht des erschöpften Steins.
    Als Gracie schließlich sprach, sagte sie: »Es ist immer noch da.«
    »Was ist immer noch da?«
    »Hörst du’s? Hörst du’s?«
    »Was hören?«, fragte Edgar.
    »Ku-ku-ku-ku.«
    Dann steuerte sie den Kleinbus an den Sozialbauten vorbei auf die bemalte Mauer zu.
    Als sie ankamen, war der Engel bereits auf seinen Platz gesprayt. Sie hatten ihr ein rosa Sweatshirt und eine rosa und grünblaue Hose verpasst und ein Paar Nike Air Jordans in Weiß, mit auffälligem Logo – sie war eine Läuferin, also hat Ismael ihr Läuferschuhe gegeben. Und der kleine Junge namens Juano baumelte immer noch an einem Seil, vom Dach mit der alten, handbetriebenen Winde heruntergelassen, mit der die Crew auch Autos auf ihren Sattelschlepper hievte. Ismael und andere beugten sich über das Sims, versuchten, ihm alles korrekt vorzubuchstabieren, während er an die Mauer schaukelte und wieder weg, sich vorbeugte, um dieineinander verschlungenen Buchstaben hinzusprühen, die die große, vergangene Ära der Wildstyle-Graffiti geprägt hatten. Die Nonnen standen neben dem Kleinbus und schauten dem Jungen zu, wie er das letzte der wenigen Wörter beendete, dann wurde er in den schneidenden Wind himmelwärts gerissen.
    ESMERALDA LOPEZ
    12 JAHR
    BESCHÜZT IM HIMEL
    Sie trafen sich alle im zweiten Stock, und Gracie marschierte in dem hohlen Raum auf und ab. Ismael stand in einer Ecke und rauchte eine Phillies Blunt. Die Nonne wusste anscheinend nicht, wo sie anfangen sollte, wie sie das Unsägliche ansprechen sollte, das irgendjemand diesem Kind angetan hatte. Diesem Kind, das sie so sehr hatte retten wollen. Sie marschierte auf und ab, sie ballte die Fäuste. Sie hörten das furzende Ächzen eines Stadtbusses, ein paar Blocks entfernt.
    »Ismael. Du musst herausfinden, wer der Kerl ist, der das getan hat.«
    »Denkstn, was ich hier leite? El Äi Pie