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Der Engel Esmeralda

Der Engel Esmeralda

Titel: Der Engel Esmeralda Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Don DeLillo
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auf den Saft. Nach zwanzig Minuten ein Rascheln, eine Art menschlicher Wind, und die Leute schauten gen Norden, Kinder zeigten gen Norden, und Edgar bemühte sich mitzukriegen, was sie sahen.
    Der Zug.
    Sie spürte das Wort, bevor sie das Phänomen sah. Sie spürte die Worte, obgleich keiner sie gesagt hatte. So fügt eine Menschenmenge Dinge zu einem Bewusstsein zusammen. Dann sah sie ihn, einen gewöhnlichen Pendlerzug, silbern und blau, ohne Graffiti, der auf die Zugbrücke zu glitt. Die Scheinwerfer wischten über die Plakatwand, und sie hörte einen Laut aus der Menge, ein Keuchen, das in Schluchzen und Stöhnen und den Aufschrei einer unsagbar schmerzlichen Wonne überschoss. Ein hervorsprudelndes Juchzen, das Aufheulen ungehemmten Glaubens. Denn als die Zuglichter auf den trübsten Teil der Plakatwand trafen, erschien ein Gesicht über dem dunstigen See, und es gehörte dem ermordeten Mädchen. Ein Dutzend Frauen griff sich an den Kopf, sie jauchzten und schluchzten, ein Geist, ein Gottesatem wehte durch die Menge.
    Esmeralda.
    Esmeralda.
    Schwester Edgar stand unter Schock. Sie hatte es gesehen, aber so flüchtig, zu schnell, um es aufnehmen zu können – sie wollte, dass das Mädchen wieder erschien. Frauen streckten dem Plakat Säuglinge entgegen, dem strömenden Saft, auf dass er sie in Taufbalsam und Öl bade. Und Schwester Janredete auf Edgar ein, in das Stimmengewirr und Getöse hinein.
    »Hat das ausgesehen wie sie?«
    »Ja.«
    »Bist du sicher?«
    »Ich glaube schon«, sagte Edgar.
    »Hast du sie je aus der Nähe gesehen?«
    »Leute aus der Gegend, ja. Alle hier. Sie kannten sie seit Jahren.«
    Gracie würde sagen, Was für ein Horror, ein Spektakel des schlechten Geschmacks. Sie wusste, was Gracie sagen würde. Gracie würde sagen, Das ist nur das Plakat darunter, ein technischer Fehler, der dazu führt, dass man das Bild darunter, das Bild von der überklebten Reklame erkennt, sobald genug Licht auf die neue Reklame scheint.
    Edgar sah Gracie vor sich, die sich an die Gurgel fasste, theatralisch nach Luft ringend.
    Hatte sie recht? Hatten die Nachrichten ihre Abhängigkeit von den Agenturen, die sie lieferten, abgeschüttelt? Erfanden sich die Nachrichten selbst auf den Augäpfeln laufender, sprechender Menschen?
    Und wenn es gar keine überklebte Reklame gab? Warum sollte unter der Orangensaftreklame eine andere Reklame sein? Bestimmt entfernten die doch die alten Plakate.
    Schwester Jan sagte: »Was jetzt?«
    Sie warteten. Diesmal warteten sie nur acht oder neun Minuten, bis der nächste Zug ankam. Edgar war in Bewegung, sie versuchte, sich nach vorn zu schlängeln, vorsichtig zu drängeln, und die Leute machten Platz, sie sahen sie – eine Nonne in Schleier und vollem Habit und Winterumhang, gefolgt von einer linkischen, kopftuchtragenden Gefährtinin einem Mantel vom Ramsch, die ein Handy in die Höhe reckte.
    Sie sahen sie und umarmten sie, und sie ließ es zu. Ihre Gegenwart war eine beglaubigende Kraft, eine Gestalt von einer universellen Kirche mit Sakramenten und geheimen Bankkonten – und sie hat beschlossen, den Weg der Armut, Keuschheit und Gehorsamkeit zu beschreiten. Sie umarmten sie und ließen sie durch, und sie erreichte die Charismatikergruppe, die Evangeliumsvorsänger schaukelten vor und zurück, als die Scheinwerfer des Zuges ihre Strahlen auf die Plakatwand richteten. Sie sah Esmeraldas Gesicht unter dem Regenbogen des freigiebigen Saftes Gestalt annehmen, über dem kleinen Vorortsee, es hatte Wesen und Gemüt, da lebte jemand in dem Bild, ein beseelender Geist und Charakter, die Schönheit eines vernunftbegabten Wesens – weniger als eine Sekunde Lebenszeit, weniger als eine halbe Sekunde, und die Stelle war wieder dunkel.
    Sie spürte, wie etwas über sie hereinbrach. Sie umarmte Schwester Jan. Sie drückten Hände, schüttelten die Hände der korpulenten Frauen, die ihre Augen gen Himmel rollten. Die Frauen veranstalteten ein großes beidhändiges Schüttelhändedrücken, vorgefertigte Wörter sprangen aus ihren Mündern, eine Chance für Trance, dachte Edgar – Singen von Dingen außerhalb der bekannten Delirien. Sie boxte einem Mann mit den Fäusten auf die Brust. Alles fühlte sich ganz nah an, brach über sie herein, Traurigkeit und Verlust und Gloria und das nackte Mitleid einer alten Mutter und eine Macht in einer tiefen Schicht der Klage, die ihr das Gefühl gab, untrennbar mit den Schüttlern und Trauernden verbunden zu sein, den von Ehrfurcht Ergriffenen, die

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