Der Engel Esmeralda
im flutenden Verkehr standen – einen Augenblick lang war sie namenlos,aller Einzelheiten der persönlichen Geschichte enthoben, eine körperlose Tatsache in flüssiger Form, die sich in die Menge ergoss.
Schwester Jan sagte: »Ich weiß nicht.«
»Natürlich weißt du. Du weißt es. Du hast sie gesehen.«
»Ich weiß nicht. Es war ein Schatten.«
»Esmeralda auf dem See.«
»Ich weiß nicht, was ich gesehen habe.«
»Du weißt es. Natürlich weißt du es. Du hast sie gesehen.«
Sie warteten zwei weitere Züge ab. Landelichter erschienen am Himmel, und die Flugzeuge stürzten weiter auf die Landebahn zu, quer übers Wasser, alle anderthalb Minuten ein neuer Flug, das zurückrauschende Dröhnen überlappte mit dem nächsten, sodass alles nahtloser Lärm war und die Luft nach qualmigem Kerosin stank. Sie warteten einen letzten Zug ab.
Wie gehen Dinge schließlich zu Ende, Dinge wie dieses – verlaufen sie sich bis zu einem vergessenen Häuflein aus müden Gläubigen, die sich im Regen zusammendrängen?
Am nächsten Abend füllten tausend Menschen die Gegend. Sie parkten ihre Autos auf dem Boulevard und versuchten, sich auf die Verkehrsinsel vorzurempeln und zu drängen, aber die meisten mussten auf der Kriechspur der Schnellstraße stehen, ungebärdig und gespannt. Eine Frau wurde von einem Motorrad erfasst und zu Boden geschleudert. Ein Junge wurde hundert Meter weit, es sind immer hundert Meter, von einem Auto mitgeschleift, das einfach weiterfuhr. Fliegende Verkäufer liefen an den Schlangen des stehenden Verkehrs entlang und verkauften Blumen, Softdrinksund lebendige Jungkätzchen. Sie verkauften eingeschweißte Bilder von Esmeralda, die auf Gebetskarten gedruckt waren. Sie verkauften Windräder, die niemals aufhörten, sich zu drehen.
Am Abend danach tauchte die Mutter auf, Esmeraldas verloren gegangene Junkiemutter, und sie brach mit rudernden Armen zusammen, als das Gesicht des Mädchens auf der Plakatwand erschien. Sie brachten sie in einem Krankenwagen fort, dem eine Reihe Ü-Wagen vom Fernsehen folgten. Zwei Männer bekämpften sich mit Kreuzschlüsseln und blockierten den Verkehr auf einer Auffahrt. Helikopterkameras hielten die Szene fest, und die Polizei zog orangefarbenes Warnband um die ganze Gegend – genau das Orange des lebendigen Orangensaftes.
Am nächsten Abend war die Plakatwand leer. Was für ein Loch im Raum. Die Leute kamen und wussten nicht, was sie sagen oder denken sollten, wo sie hinschauen und was sie glauben sollten. Die Plakatwand war eine weiße Platte mit zwei mikroskopisch kleinen Wörtern, Freie Werbefläche, gefolgt von einer Telefonnummer in geschmackvoller Schrifttype.
Als der erste Zug kam, in der Dämmerung, zeigten die Lichter nichts.
Und woran erinnerst du dich schließlich, wenn alle nach Hause gegangen sind, die Straßen aller Inbrunst und Hoffnung entleert, vom Flusswind verweht? Ist die Erinnerung dünn und bitter, beschämt sie dich mit ihrer fundamentalen Unwahrheit – alles Nuance und Wunschsilhouette? Oder hält die Kraft der Transzendenz an, der Nachgeschmack eines Ereignisses, das die Naturkräfte vergewaltigt, etwas Heiliges, das am heißen Horizont atmet, die Vision, nach der du dich sehnst,weil du ein Zeichen brauchst, um dich deinen Zweifeln entgegenzustellen?
Edgar hielt das Bild in ihrem Herzen fest, das körnige Gesicht an der beleuchteten Wand, ihr jungfräulicher Zwilling, der zugleich ihre Tochter war. Und sie erinnerte sich an den Geruch des Flugzeugkerosins. Dies wurde zum Weihrauch ihres Erlebnisses, verbranntes Zedernholz und Harz, ein Medium des Festhaltens, das den Augenblick intakt bewahrte, all die Augenblicke, die benommenen Verzückungen und das Aufwallen brüderlicher Gefühle.
Sie fühlte den Schmerz in ihren Gelenken, der alte Körper hing tief in seinem Alltagsschmerz, Schmerz an den Gelenkstellen, scharf spürbare Stiche in den Verbindungen zwischen den Knochen.
Sie erhob sich und betete.
O Herr, wir flehen hinauf zu dir, gieß aus deine Gnade in unser Herz.
Zehn Jahre Ablass, wenn das Gebet im Morgengrauen, am Mittag und am Abend gesprochen wird, oder baldmöglichst danach.
TEILDREI
Baader-Meinhof (2002)
Mitternacht in Dostojewskij (2009)
Hammer und Sichel (2010)
Die Hungerleiderin (2011)
BAADER-MEINHOF
Sie wusste, da war noch jemand im Raum. Es gab kein regelrechtes Geräusch, nur eine Ahnung hinter ihr, eine schwache Luftverschiebung. Sie war eine Zeit lang allein gewesen, hatte mitten im Ausstellungsraum auf
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