Der Engel Esmeralda
Tage hintereinander hergekommen war. Sie ging zur nächsten Wand, kam seinem Platz auf der Bank etwas näher. Dann verriet sie es ihm.
»Das geht ins Geld«, sagte er. »Es sei denn, Sie sind Mitglied.«
»Ich bin kein Mitglied.«
»Dann sind Sie Kunstlehrerin.«
»Ich bin keine Kunstlehrerin.«
»Sie wollen, dass ich still bin. Sei still, Bob. Nur heiße ich nicht Bob.«
Auf dem Bild, wo die Särge durch eine große Menschenmenge getragen werden, hatte sie zuerst gar nicht erkannt, dass es Särge waren. Auch um die Menge zu erkennen, hatte sie recht lange gebraucht. Da war die Menge, nicht viel mehr als ein aschgrauer Fleck, ein paar Gestalten standen rechts im Vordergrund, als Individuen erkennbar und mit dem Rücken zum Betrachter, und dann war oben auf dem Bild etwas Aufgebrochenes, ein blasser Streifen Erde oder Straßenbelag, und dann noch eine Menschenmenge, Menschen oder Bäume, und es dauerte einige Zeit, bis man begriff, dass die drei weißlichen Objekte etwa in der Mitte des Bildes Särge waren, die durch die Menge getragen wurden oder einfach aufgebahrt waren.
Daswaren die Leichen von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und einem Mann, dessen Namen sie sich nicht gemerkt hatte. Er war in seiner Zelle erschossen worden. Baader war auch erschossen worden. Gudrun erhängt.
Sie wusste, dass das ungefähr anderthalb Jahre nach Ulrike passiert war. Ulrike gestorben im Mai, das wusste sie, 1976.
Zwei Männer betraten den Ausstellungsraum, gefolgt von einer Frau am Stock. Alle drei stellten sich vor die Wandtafel mit Erläuterungen und lasen.
Auf dem Bild mit den Särgen war noch etwas, das einem nicht sofort auffiel. Sie hatte es erst am zweiten Tag bemerkt, gestern, und es war verblüffend, sobald sie es entdeckt hatte, und inzwischen unausweichlich – ein Ding oben auf dem Bild, ein bisschen links von der Mitte, ein Baum vielleicht, mit den groben Umrissen eines Kreuzes.
Sie trat näher an das Bild heran, hörte die Frau mit dem Stock auf die gegenüberliegende Wand zugehen.
Sie wusste, dass diese Gemälde auf Fotos basierten, aber die kannte sie nicht und wusste nicht, ob es da irgendwo einen kahlen Baum, einen toten Baum jenseits des Friedhofs gab, der aus einem spirreligen Stamm mit einem einzigen, verbliebenen Ast bestand, oder mit zwei Ästen, die weit oben am Stamm ein Querstück bildeten.
Jetzt stand er neben ihr, der Mann, mit dem sie gesprochen hatte.
»Verraten Sie mir, was Sie wahrnehmen. Ernsthaft. Ich möchte es gern wissen.«
Etliche Besucher, mit Führerin, kamen herein, und sie drehte sich einen Augenblick um, beobachtete, wie sich alle vor dem ersten Werk des Zyklus versammelten, dem Bildnisvon Ulrike als viel jüngerer Frau, als Mädchen eigentlich, distanziert und sehnsüchtig, Hand und Gesicht halb in dem düsteren Dunkel schwebend, das sie umgab.
»Jetzt ist mir klar, dass ich am ersten Tag einfach nur geguckt habe. Ich dachte, ich würde richtig hinsehen, aber ich bekam nur eine ungefähre Ahnung von dem, was in diesen Bildern steckt. Ich fange erst jetzt an zu sehen.«
Sie standen da und sahen sich gemeinsam die Särge und Bäume und Menschen an. Die Führerin sprach zu ihrer Gruppe.
»Und was fühlen Sie beim Sehen?«
»Ich weiß nicht. Das ist kompliziert.«
»Ich fühle nämlich gar nichts.«
»Ich glaube, ich fühle mich hilflos. Diese Bilder lassen mich fühlen, wie hilflos ein Mensch sein kann.«
»Und deshalb sind Sie drei Tage hintereinander hier? Um sich hilflos zu fühlen?«, sagte er.
»Ich bin hier, weil ich diese Bilder liebe. Immer mehr. Zuerst war ich verwirrt, und ein bisschen bin ich das immer noch. Aber ich weiß, jetzt liebe ich diese Bilder.«
Es war ein Kreuz. Sie hielt es für ein Kreuz, und es gab ihr das Gefühl, richtig oder falsch, dass in diesem Bild ein Element der Vergebung lag, dass die beiden Männer und die Frau, Terroristen, und Ulrike vor ihnen, Terroristin, nicht jenseits aller Vergebung waren.
Aber sie zeigte dem Mann neben ihr das Kreuz nicht. Das wollte sie nicht, eine Diskussion über dieses Thema. Sie glaubte nicht, dass sie sich das Kreuz nur einbildete, es in einigen freien Pinselstrichen wahrnahm, aber sie wollte auch keine grundsätzlichen Zweifel daran hören.
Siegingen in eine Snackbar und setzten sich auf Hocker an einen schmalen Tresen, der an der gesamten Länge des Schaufensters entlangführte. Sie betrachtete die Massen auf der Seventh Avenue, wo die halbe Welt vorbeihetzte, und schmeckte kaum, was sie aß.
»Ich
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