Der Engel Esmeralda
hab den Anfangsknalleffekt des Börsengangs verpasst«, sagte er, »wo die Aktien einen bombastischen Höhenflug machen, vierhundert Prozent, sag ich mal, in ein paar Stunden. Ich war erst beim Umlaufmarkt dabei, der war ziemlich schwach, und nachher noch schwächer.«
Als die Hocker alle besetzt waren, aßen die Leute im Stehen. Sie wollte nach Hause und ihren Anrufbeantworter abhören.
»Ich mache jetzt Termine. Ich rasiere mich, ich lächele. Mein Leben ist die Hölle auf Erden«, verkündete er mit vollem Mund.
Er war raumgreifend, ein großer breiter Mann, der etwas Schlaffes an sich hatte, etwas Lockeres, Vertorkeltes. Jemand griff an ihr vorbei, um eine Serviette aus dem Spender zu zupfen. Sie wusste nicht, was das eigentlich sollte, mit diesem Mann zu reden.
Er sagte: »Keine Farbe. Kein Sinn.«
»Was die getan haben, hatte einen Sinn. Es war falsch, aber es war nicht blind und leer. Ich glaube, danach sucht der Maler. Und wie kam es dazu, dass es so endete, wie es endete, ich glaube, das ist die Frage, die er stellt, alle tot.«
»Es konnte gar nicht anders enden. Geben Sie’s zu«, sagte er. »Sie sind Kunstlehrerin für behinderte Kinder.«
Sie wusste nicht, ob das interessant oder grausam war, aber sie sah sich in der Scheibe, ein verärgertes Lächeln im Gesicht.
»Ichbin keine Kunstlehrerin.«
»Das hier ist Fast Food, und ich versuche, es langsam zu essen. Ich habe erst um halb vier einen Termin. Essen Sie langsam. Und verraten Sie mir, was Sie unterrichten.«
»Ich bin keine Lehrerin.«
Sie verriet ihm nicht, dass sie auch keine Arbeit hatte. Sie war es inzwischen leid, ihre Stelle zu beschreiben, in der Verwaltung eines Schulbuchverlags, warum also jetzt die Mühe, dachte sie, wo weder Stelle noch Verlag mehr existierten.
»Das Problem ist nur, langsam essen geht mir gegen den Strich. Ich muss mich immer selber dran erinnern. Aber auch dann schaff ich die Umstellung nicht.«
Das war gar nicht der Grund. Sie erzählte ihm nicht, dass sie keine Arbeit hatte, weil es eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen hergestellt hätte. Das wollte sie nicht, ein Einknicken zum gegenseitigen Einverständnis, eine Kumpanei. Lieber bei der diffusen Tonart bleiben.
Sie trank ihren Apfelsaft und sah die vorbeiziehende Menge an, Gesichter, die eine halbe Sekunde lang vollkommen kenntlich wirkten und dann binnen viel kürzerer Zeit für immer vergessen waren.
Er sagte: »Wir hätten in ein richtiges Restaurant gehen sollen. Hier kann man so schlecht reden. Sie fühlen sich nicht wohl.«
»Nein, schon in Ordnung. Aber ich hab es jetzt ziemlich eilig.«
Er schien darüber nachzudenken und es dann, keineswegs entmutigt, zu übergehen. Sie dachte daran, auf die Toilette zu gehen, und dachte dann, nein. Sie dachte an das Hemd des toten Mannes, das Hemd von Andreas Baader, schmutziger oder blutiger auf dem einem Bild als auf dem anderen.
»UndSie haben was um drei«, sagte sie.
»Halb vier. Aber das ist noch lange hin. Das ist eine andere Welt, wo ich meine Krawatte richte und reingehe und denen erzähle, wer ich bin.« Er machte eine kurze Pause und schaute sie dann an. »Jetzt müssen Sie sagen: ›Wer sind Sie?‹«
Sie sah sich lächeln. Sagte aber nichts. Sie dachte, dass Ulrikes Abschürfung am Hals vielleicht gar nicht von dem Seil war, sondern das Seil selbst, falls es überhaupt ein Seil gewesen war und kein Draht oder Gürtel oder noch etwas anderes.
Er sagte: »Das ist Ihr Satz. ›Wer sind Sie?‹ Ich liefere Ihnen eine wunderschöne Vorlage, und Sie verpatzen Ihren Einsatz total.«
Sie waren mit dem Essen fertig, aber die Pappbecher waren noch nicht leer. Sie sprachen über Miete und Nebenkosten und Stadtviertel. Sie wollte ihm nicht sagen, wo sie wohnte. Sie wohnte nur drei Blocks entfernt, in einem heruntergekommenen Backsteinbau, dessen Unvollkommenheiten und Funktionsstörungen sie mit der Zeit als Struktur ihres Lebens erkannt hatte, nicht zu verwechseln mit den Mühen eines normalen Tages.
Dann verriet sie es ihm. Sie redeten darüber, wo man laufen und Rad fahren konnte, und er verriet ihr, wo er wohnte und wo er joggte, und sie sagte, ihr sei das Fahrrad aus dem Keller ihres Hauses gestohlen worden, und als er sie fragte, wo sie wohne, verriet sie es ihm, mehr oder weniger beiläufig, und er trank seine Diätlimo und sah aus dem Fenster, oder vielleicht in die Scheibe, auf ihre matten Spiegelbilder, ein Paar auf dem Glas.
Alssie aus dem Bad kam, stand er am Küchenfenster, als wartete er
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