Der Engel Esmeralda
machten, sich zurückzogen in ihre Handys.
» Marx Lenin Che – Hey! «
Ihre Mutter war irre. Wie sie das Neue an einem Börsenbericht von Kindern pervertiert hatte. Die Insassen waren verwirrt und stachelten sich zu hirnloser Anarchie an. Nur Feliks Zuber war plausibel, wie er matt die Faust reckte, ein Mann, der hier war, weil er versucht hatte, eine Revolution zu finanzieren, einer, der Trompeten und Trommeln aus diesem Chor der Namen heraushören konnte. Es brauchte eine Weile, bis die Energie im Raum abebbte und die Stimmen der Mädchen sich beruhigten.
»Wir warten alle auf eine Antwort.«
»Entsprechend, sagen die Analysten.«
»Irgendwann, beteuern die Investoren.«
»Anderswo, behaupten die Ökonomen.«
»Irgendwo, beharren die Funktionäre.«
»Das könnte schlimm werden«, sagte Kate.
»Wie schlimm?«
»Sehr schlimm.«
»Wie schlimm?«
»Weltuntergangsschlimm.«
Sie starrten in die Kamera und endeten flüsternd.
»F. Harry Stowe.«
»F. Harry Stowe.«
Der Bericht war vorüber, aber die Mädchen blieben im Bild. Sie saßen da und schauten, wir saßen da und schauten. Die Situation wurde unbehaglich. Laurie sah zur Seite, dann rutschte sie von ihrem Stuhl und verließ den Bildausschnitt. Kate blieb, wo sie war. Ich bemerkte, dass sich ein vertrauter Ausdruckin die Augen, über den Mund und Kiefer schlich. Er besagte Verweigerung. Warum sollte sie einen peinlichen Abgang hinnehmen, den irgendein dummer technischer Schnitzer verursacht hatte? Sie würde uns alle in Grund und Boden starren. Dann würde sie uns präzise mitteilen, was sie von der Angelegenheit hielt, von der Sendung und den Nachrichten selbst. Deshalb wäre ich am liebsten aufgestanden und gegangen, unbemerkt aus der Reihe geschlüpft, an der Wand entlang und hinaus in das staubige Licht des Spätnachmittags. Aber ich blieb da und schaute, genau wie sie. Wir schauten uns an. Sie beugte sich jetzt vor, legte ihre Ellbogen auf den Tisch, die Hände auf Kinnhöhe gefaltet wie eine Lehrerin der fünften Klasse, die genervt war von meinem Kichern und Zappeln oder einfach nur von meiner Dummheit. Die Spannung im Raum hatte Masse und Gewicht. Ich bekam Angst davor, dass sie über die Nachrichten sprechen würde, die ganzen Nachrichten, die ganze Zeit, und über ihren Vater, der immer gesagt hatte, es gebe Nachrichten, damit sie verschwinden könnten, das sei ihr eigentlicher Sinn, egal, um welche Story es gehe oder wo sie passiert sei. Wir brauchen das immerwährende Verschwinden der Nachrichten , sagt mein Vater. Dann wurde mein Vater zu einer Nachricht. Dann verschwand er .
Aber sie saß nur da und schaute, und bald wurden die Insassen unruhig. Ich merkte, dass ich mit der Hand meine untere Gesichtshälfte bedeckte, ein unnötiges Verbergen meiner Elternschaft. Leute im Aufbruch, erst nur ein paar, dann ein paar mehr, dann ganze Gruppen, einige duckten sich, während sie durch die Reihen gingen. Vielleicht wollten sie anderen nicht die Sicht nehmen, aber ich glaubte eher, die meisten schlichen schuldbewusst und beschämt hinaus. Wiedem auch sei, die Sicht blieb unverändert, Kate, die vor der Kamera saß und mich anschaute. Ich fühlte mich ausgehöhlt, aber ich konnte nicht weg, solange sie noch da war. Ich wartete auf einen leeren Bildschirm, und lange Minuten später wurde er unscharf, streifig, dann endlich dunkel.
Der Raum hatte sich geleert, als ein Zeichentrickfilm kam, ein dicker Junge, der einen holprigen Abhang hinunterrannte. Feliks Zuber saß immer noch auf seinem Stuhl ganz vorn, er und ich waren die beiden einzigen verbliebenen Zuschauer, und ich wartete darauf, dass er sich umdrehte und mir zuwinkte oder einfach nur noch dasaß, tot.
Kurz vor Tagesanbruch schlug ich die Augen auf, und der Traum war immer noch da, schwebte vor mir, fast zum Anfassen. Wir können unseren Träumen nicht gerecht werden, wenn wir sie in der Erinnerung durcharbeiten. Sie erscheinen uns geliehen, wie ein Teil eines anderen Lebens, unseres Lebens nur vielleicht und nur in den äußersten Randzonen. Eine Frau steht unter einem Deckenventilator in einem hohen, düsteren Zimmer in Ho Chi Minh City, der Name der Stadt ist unauslöschlich in den Traum hineingewoben, die Frau, vorübergehend im Dunkeln, streift ihre Sandalen ab und kommt mir allmählich bekannt vor, und jetzt wird mir klar, warum das so ist, denn sie ist meine Frau, sehr merkwürdig, Sara Massey, die langsam ihre Kleidung ablegt, eine Tunika mit weiter Hose, einen ao dai
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