Der Engel mit den Eisaugen
betraute. Als die Ergebnisse im Gerichtssaal vorgelegt wurden, fiel die Anklage in sich zusammen. Natürlich wäre dasselbe passiert, wenn die neue Untersuchung gleich in erster Instanz genehmigt worden wäre – mit dem Ergebnis, dass die beiden jungen Leute nicht noch zwei Jahre länger unschuldig im Gefängnis hätten zubringen müssen.
Erst am 18 . Dezember 2010 gab der Vorsitzende des Berufungsgerichts, Claudio Pratillo Hellmann, dem Antrag der Verteidiger von Amanda und Raffaele statt, wonach ein neues Gutachten zu den DNA -Spuren auf dem Messer und auf Merediths BH -Verschluss erstellt werden sollte. Stefano Conti und Carla Vecchiotti, Forensikspezialisten vom Fachbereich Wissenschaften der Anatomie, Histologie, Forensik und des Bewegungsapparats in der Abteilung Gerichtsmedizin an der Universität Rom, wurden mit dem Auftrag betraut.
Die Experten hatten folgende Aufgaben zu erfüllen:
»Wenn mit der neuen technischen Untersuchung möglich, die Zuschreibung der vorhandenen DNA sowie die Glaubwürdigkeit der eventuellen Zuschreibung auf den Beweisstücken 65 h (Verschluss des Büstenhalters) und 36 (Messer) bewerten.
Sofern eine solche neue Untersuchung nicht möglich ist, sollten die von der Spurensicherung vorgenommenen Ermittlungen zu oben genannten Beweisstücken anhand der Gerichtsakten auch im Hinblick auf eventuelle Verunreinigungen geprüft werden.«
Für die so notwendigen Untersuchungen wurden den beiden Experten neunzig Tage – und eventuell mehr – eingeräumt. Dadurch zog sich Amandas und Raffaeles Haft noch weiter hin.
Am 29 . Juni 2011 lagen dem Gericht die Ergebnisse des Gutachtens vor – ein Tsunami, der die Argumentation der Anklage vernichtete. Alle zuvor durchgeführten technischen Untersuchungen seien »nicht beweiskräftig«, hieß es.
»Die von der Expertenkommission in Hinblick auf die Natur des analysierten Materials formulierten Hypothesen sind völlig willkürlich und halten keiner wissenschaftlich-objektiven Überprüfung stand.«
Doch dies war nur der Anfang. Die Inschrift auf dem Grabstein der diskreditierten Untersuchungen stellte unerbittlich fest: »Es ist nicht klar, inwieweit die Tatortsicherung gemäß der internationalen Protokolle ausgeführt wurde, um eine Kontaminierung zu vermeiden. Beim Einsammeln von Beweisstücken und bei den Probeentnahmen wurden die international protokollierten Regeln nicht eingehalten. Weiterhin ist nicht klar, inwieweit die strikten Dekontaminierungsmaßnahmen angewendet wurden, um eine Verschmutzung durch das Labor zu vermeiden. Bei der Quantifizierung des DNA -Materials auf den Spuren A, B, C wurde keine zuverlässige Methode angewandt …«
Das vernichtendste Ergebnis schlug im Verhandlungssaal des Berufungsgerichts wie eine Bombe ein: Auf der Spitze der Messerklinge, die man in Raffaeles Wohnung sichergestellt hatte, befanden sich keine DNA -Spuren von Meredith, sondern – Spuren von Mehl. Das Messer war zum Brotschneiden benutzt und danach nicht abgewaschen worden.
»Die erwähnten Spuren«, schrieben die Experten Conti und Vecchiotti in ihrem 146 Seiten langen Bericht, »wurden einem ›spezies-spezifischen‹ Test unterzogen, und auch dieser ergab ein für die menschliche Spezies negatives Resultat.«
Im Hinblick auf das zweite fundamentale Fundstück, den Verschluss des BHs , stellten sie fest, dass »keine überzeugenden, wissenschaftlichen Hinweise für angebliche Zellabschuppungen existieren«. Weiter heißt es: »Es ist nicht auszuschließen, dass die gewonnenen Resultate von Verschmutzungen aus der Umgebung herrühren und/oder von einer Verschmutzung, die in einer beliebigen Phase der Beweisfindung und/oder bei der Bearbeitung des Beweismaterials eingetreten ist.«
Das Gutachten Conti/Vecchiotti fällte außerdem ein hartes Urteil über die von der Spurensicherung in Perugia angewandten Methoden: »Die internationalen Protokolle zur Tatortbegehung und die internationalen Protokolle für das Einsammeln von Beweisstücken und die Probeentnahmen wurden nicht eingehalten; es ist nicht ersichtlich, dass speziell abgegrenzte Bereiche geschaffen wurden, um Verunreinigungen zu reduzieren; es ist nicht ersichtlich, dass man sich unter Berücksichtigung der Anti-Kontaminations-Kriterien zwischen den verschiedenen Bereichen um einen Zutritt via Sicherheitskorridor bemüht hätte; es ist nicht ersichtlich, dass ein geeigneter Lagerplatz für Einwegmaterial eingerichtet worden wäre; die Registrierung der
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