Der Engel Schwieg.
Bewegungen der Streitenden ab: ein bedrohliches Wogen sich drängender und stoßender Leute. Dann war Ruhe, und der Har- monikaspieler spielte für jemand anderen.
Die beiden Frauen hinter ihm schienen schon zu schlafen, sie waren ganz still, weiter zurück hörte er das geile Kichern eines
Pärchens, die Harmonika verstummte, und die glühenden Punkte
der Zigaretten wurden weniger; er tastete im Dunkeln seitlich und stieß auf formlose Bündel, von denen er nicht wußte, ob es Säcke oder Menschen waren…
Später mußte er eingeschlafen sein, er wurde sehr plötzlich geweckt von einem wüsten Geschrei: irgend jemand war auf irgend jemand getreten; es schien eine Balgerei zu geben, bei der ein Gepäckstück verschwand, eine helle und aufgeregte Männer- stimme rief: »Mein Koffer, mein Koffer… ich muß zum Zug, zum 2 Uhr 40.« Eine Menge Stimmen wiederholten: »2 Uhr 40, da müssen wir auch mit«, es entstand eine wilde Bewegung im Finsteren und die Männerstimme schrie immer noch nach ihrem Koffer. Dann ging die Tür auf, und im Flur sah er eine vielköp- fige Menge stehen, beleuchtet von der trüben Birne, und die Männerstimme schrie: »Polizei, Polizei, mein Koffer…«
Es wurde mäuschenstill, als im Flur zwei Papphelme sich durch die Menge nach vorne drängten, dann huschte der sehr blanke Schein einer großen Taschenlampe in den Raum, be- leuchtete Staubteilchen und die geduckte, harrende Menge, die sehr demütig erschien, wie betend, das Gesicht zum Licht hin.
Die Polizistenstimme sagte ruhig und deutlich: »Der Koffer, wenn der Koffer nicht…«, aber in diesem Augenblick schien der
Mann schon seinen Koffer in der Hand zu haben, er rief: »Da ist
er, ich habe ihn«, und aus der Masse schrien ihm Stimmen ent- gegen: »Alter Idiot, dummes Schwein, paß auf nächstens…«
Die Tür wurde geschlossen, und es war wieder dunkel, aber von dieser Zeit an konnte er nicht mehr schlafen. Alle Viertel- stunden entstand Bewegung, verbreitete sich Unruhe wie Wel-
lengang, Züge wurden ausgerufen, man rief nach Bekannten,
brüllte sich zu seinem Gepäck durch, und die Luft in diesem Betonklotz schien immer dicker und widerwärtiger zu werden… Manchmal wischte er sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn, während er gleichzeitig spürte, daß er von unten fror. Die Decke und auch der Sack, an den er sich angelehnt hatte, waren weg. Er rutschte langsam weiter, bis er auf Widerstand stieß, beugte sich über dieses Etwas, um festzustellen, ob es tot oder
lebend war, und roch die konzentrierte Schärfe von Zwiebeln, er
entdeckte, daß es ein Korb war, zugenäht und groß. Er setzte sich auf den Korb, schon zu sitzen war wunderbar, er hockte sich zusammen, ließ den Kopf auf die Brust sinken und schlief für kurze Zeit wieder ein, bis jemand ihn einfach vom Korb herun- terstieß: »Freches Schwein«, sagte eine Stimme, und er fing sich taumelnd auf dem steinigen Boden, kroch seitwärts, kauerte sich zusammen und wartete eine Weile…
Die Zwischenräume waren größer geworden, und er kroch weiter, bis er den Atem eines Menschen hörte: langsam tastete er sich heran, fühlte einen Schenkel, einen Schuh: es war ein Frau-
enschuh, hohe Absätze und ein kleiner Fuß, und er beugte sich
dorthin vor, wo ihr Gesicht sein mußte: der warme Atem traf ihn, er hielt seine Hände in den Bereich dieses warmen Atems hinein, beugte sich tiefer, aber er konnte nichts sehen, dann ent- deckte er in dem Geruch dieser unbekannten Frau, von der er weder Alter noch Aussehen kannte, etwas wie Seife: ein ganz leichter Geruch von Parfüm und Seife. Er blieb über sie gebeugt, und er hielt sein Gesicht nahe an ihren Atem: der Atem war warm, ruhig, und der schöne Seifengeruch schien immer stärker zu werden; er wälzte sich seitlich zu ihr und drückte sein Gesicht in ihren Mantel hinein: Moschus, etwas Pfefferminz, dieser starke und schöne Geruch bewirkte, daß er einschlief…
Als er wieder erwachte, wurde der Raum geleert; die unbe- kannte Frau neben ihm war weg, und er ließ sich von der Masse nach außen drängen, wieder wurde er an dem Tisch, wo die schmutzigen Decken aufgestapelt lagen, festgehalten, mußte seine Papiere zeigen und warten, bis festgestellt worden war, ob er eine Decke bekommen hatte; an diesem Tisch stand jetzt ein Mann, ein alter griesgrämiger Invalide, der die kalte Pfeife im Mund hielt, stumpfsinnig die Decken einsammelte und den Be- sitzern ihr Geld in die ausgestreckten dreckigen Hände
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