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Der Engel Schwieg.

Der Engel Schwieg.

Titel: Der Engel Schwieg. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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eine Art Hausordnung, die haupt- sächlich darin bestand, vor Diebstählen zu warnen, und ver- sprach, daß zu den Zügen am Morgen ausgerufen werden soll- te…
    Er hatte sich auf den Betonboden gehockt, in einer Ecke, wo er dem Gedränge der neu Hereinströmenden nicht ausgesetzt war, und war froh, zunächst Ruhe zu haben, aber als es dunkel wurde, schien alles schlimmer zu werden. Jeder Zug, der ankam, schien
    neue Massen zerlumpter Zeitgenossen anzuschleppen, dreckige
    Gestalten mit Kartoffelsäcken, zerbeulten Koffern, und entlasse-
    ne Soldaten, die ihre grauen Mützen in den Händen drehten oder die Finger in den Manteltaschen vergruben. Jedesmal, wenn Neue kamen, ging die Tür auf, und er sah dann die beleuchteten Köpfe, schwarz und unkenntlich in dem trüben Licht, das vom Flur hereinfiel…
    Später kam der Beamte noch einmal und verkündete ins Dun- kel hinein, daß Rauchen verboten sei. Vielstimmiges Geheul antwortete ihm, und er schrie wütend: »Meinetwegen raucht und verreckt.«
    An verschiedenen Ecken brannten Kerzenstummel, und die Glut vieler Zigaretten und Pfeifen bewirkte eine milde Beleuch- tung. Hinter ihm hockten zwei Frauen auf einer Bank, die mit Kisten und Koffern einen großen Teil des Bodens besetzt hiel- ten. Wenn er die einzelnen ansah, schienen sie alle arm müde und still zu sein wie er, aber als Masse wirkten sie laut und ab- stoßend, und als die Kerzen eine nach der anderen erloschen und nur noch ein sehr schwacher Schimmer von den Zigaretten herrschte, fingen sie alle an zu essen. Die Frauen mit den Kisten und Koffern hinter ihm hörte er besonders deutlich: sie kauten unermüdlich, es schien ihm endlos, wie sie kauten, erst Brot, viele Brote eine lange, sehr lange Zeit horte er dieses trockene kaninchenhafte Muffeln, mit dem sie Brot aßen im Dunkeln. Dann irgendetwas Feuchtes und zugleich Knackendes, es schien Obst zu sein, Äpfel. Zuletzt tranken sie: er hörte sehr deutlich das glucksende Geräusch, wenn sie aus der Flasche tranken. Auch links und rechts, vor und hinter ihm fingen alle im Dun- keln an zu essen, sie schienen alle nur auf die Dunkelheit gewar- tet zu haben, um zu essen; es war ein hundertfaches heimliches Fletschen und Kauen, hier und da entstand Gezänk, das schnell erstickt wurde; und dieses vielfache Essen setzte sich in seinem Gehirn fest wie das Geräusch einer Verdammtheit, für die er keinen Namen hatte: Essen schien keine schöne Notwendigkeit mehr, sondern ein finsteres Gesetz, das sie zwang, zu verschlin- gen, um jeden Preis zu verschlingen, während ihr Hunger nicht gestillt, sondern vermehrt zu werden schien: es schien ihm, als
    keuchten sie. Das Essen dauerte stundenlang, und wenn ein Teil
    des Bunkers ruhiger zu werden schien, wurde von draußen, vom Bahnhof her, wieder eine neue Menge hineingepreßt, es wurde immer enger, und nach einer gewissen Zeit fing wieder dieses Rascheln von Papier an, das Brechen von Kartons, das hastige Herumsuchen an Säcken, Paketen, das Aufschnappen von Schlössern und dieses widerliche Gurgeln aus Flaschen, in dunk- ler Heimlichkeit…
    Später flüsterten sie, es wisperte im Dunkeln, weckte Erinne- rung an glückliche Hamsterfahrt, Bedauern über das Schwinden der Vorräte…
    Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, obwohl er fror. Er hatte
    den Zipfel einer Decke erwischt, setzte sich darauf und lehnte sich hinten gegen einen prallen Rucksack, er spürte die Kartof- feln wie die Knochen eines geheimnisvollen Gerippes. Immer noch rauchten welche, die Punkte glühender Zigaretten schienen sich zu mehren, die Luft wurde dick und schauerlich. Später leierte in einer Ecke sehr leise eine Ziehharmonika. Eine Stimme rief laut: »›Erika‹ spiel mal ›Erika‹…« Die Ziehharmonika spiel- te ›Erika‹. Andere schrien nach anderen Liedern und der Har- monikaspieler mit einer heiseren Stimme verlangte Bezahlung; dann wurden im Dunkeln unsichtbare Gaben für den Harmoni- kaspieler rundgereicht, in unsichtbare Hände gelegt und auf eine flinke und lautlose Wanderschaft in die Finsternis geschickt: eine Scheibe Brot oder ein Apfel, eine halbe Gurke oder eine Kippe. Plötzlich entstand irgendwo Krach, Schimpfen und eine Prügelei, die sich auf eine Gabe bezog, die nicht weitergereicht worden war; jedenfalls leugnete der Harmonikaspieler, sie emp- fangen zu haben, und verweigerte das Lied, und im Nu war im Sektor des Spenders die Stelle ausfindig gemacht, wo die Gabe verschwunden war; in der dunklen Masse zeichneten sich die

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