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Der Engel Schwieg.

Der Engel Schwieg.

Titel: Der Engel Schwieg. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Böll
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unendlich weit zurückzuliegen; damals war noch Krieg gewesen, eben noch Krieg, und die Gewißheit, daß kein Krieg mehr war, mach- te diese vierzehn Tage alt und lang, und er blickte in diese kurze Vergangenheit wie auf ein Bild, das unendlich verkleinert vor
    ihm lag. Es schien ihm weiter entfernt als die griechische Ge-
    schichte, die ihm immer sehr weit entfernt vorgekommen war. Zwei Jungen waren jetzt über die Trümmer geklettert und fin-
    gen an, die herausgeschleuderte Kabinentür sachkundig ausein- anderzuhauen, indem sie mit einem Hammer die Rahmen aus
    dem Leim lösten, die Füllungen aus den Fugen zogen und die
    Tür zu einem kleinen flachen Holzpaket zusammenlegten.
    Er stand auf, um in die Gasse hineinzuklettern. Brot, dachte er. Brot werde ich also bestimmt essen – und Geld werde ich be- kommen, er rechnete jetzt schon wirklich mit dem Geld, einer anständigen Summe, einer Abschlagzahlung auf den Tod, die sicher einen Wert von zwanzig Broten haben würde…
    Als er in den Hauseingang hineinging, spürte er, daß seine Hände, die den Zettel umklammerten, naß waren von Schweiß; die Schreibmaschinenschrift war leicht verschmiert, als er jetzt den Zettel glättete und an die Tür klopfte.
    Er hörte lange nichts, viel zu lange, erschien es ihm, und er klopfte noch einmal heftiger, die Schläge gingen ohne Echo in diese vollgestopfte Diele hinein; er hörte wieder nichts und schlug mit seinem Absatz dreimal heftig gegen die Tür. Oben hörte er im Türrahmen die Scheibe leise zittern und es rieselte von herunterfallendem Putz…
    Dann endlich ging links die Tür, die ins Zimmer der Frau führ- te, und schon spürte er Schrecken, als er die harten und knappen Schritte eines Mannes hörte. Die Tür ging auf, und ein Gesicht
    erschien, ein langes breites blasses Männergesicht mit nervös
    geöffnetem Mund…
    Das war etwas, was ihm oft lästig und sehr schwer geworden war: er konnte kein Gesicht vergessen. Sie folgten ihm alle, und er erkannte sie, sobald sie wieder auftauchten. Irgendwo in sei- nem Unterbewußtsein paddelten sie dahin, besonders jene, die er nur flüchtig einmal gesehen hatte, schwammen herum wie un- deutliche graue Fische zwischen Algen im trüben Tümpel, manchmal schoben sich ihre stummen Köpfe bis hart an die Oberfläche – aber endgültig tauchten sie auf, standen vor ihm deutlich und unentrinnbar, wenn er sie wirklich wiedersah: es
    war, als höbe sich ihr Spiegelbild erst klar und scharf wieder
    hoch, sobald sie selbst auftauchten in diesem schmerzhaft beleb- ten Sektor, den seine Augen beherrschten. Alle kamen sie wie- der: das Gesicht eines Straßenbahnschaffners, der ihm vor Jah- ren einmal einen Fahrschein verkauft hatte, wurde zum Gesicht eines Landsers, der in einer Krankensammelstelle neben ihm lag: ein Bursche, aus dessen Kopfverband damals die Läuse heraus- gekrochen waren, sich wälzend im geronnenen wie im frischen Blut: Läuse, die friedlich über einen Nacken krochen, über ein ohnmächtiges Gesicht, er sah sie an den Ohren herumklettern, waghalsige Tiere, die abrutschten und sich an der Schulter wie- der fingen, am Ohr desselben Mannes, der ihm dreitausend Ki- lometer westlich vor sieben Jahren einen Umsteigefahrschein verkauft hatte: ein schmales leidendes Gesicht, das damals sehr frisch und optimistisch gewesen war…
    Aber dies breite blasse Männergesicht mit dem nervös geöff- neten Mund hatte sich nicht verändert, weder Krieg noch Zerstö- rung hatten es angreifen können: die teigige Oberfläche akade- mischer Ruhe, Augen, die wußten, daß sie etwas wußten, und als einziger Punkt leichten Schmerzes der leicht geöffnete, fein geschwungene Mund, dessen Schmerz auch Ekel sein konnte, eine besonders genußreiche Art von Ekel. Im fahlen Licht der dunklen Diele erschien ihm das Gesicht wirklich wie der Kopf eines großen blassen Karpfens, der aus dem Teich hochtaucht, stumm und sicher, während die Hände unsichtbar blieben unten im dichten Dunkel des Raumes. Dies war Dr. Fischer, ein Kunde jener Buchhandlung, in der er gelernt hatte, den zu bedienen ihm einmal nur als fortgeschrittenem Lehrling erlaubt gewesen war, denn Fischer verstand etwas von Büchern, war Philologe, Jurist, Herausgeber einer Zeitschrift, hatte eine tiefe und nicht ganz unproduktive Neigung zur Goethologie und galt damals als der inoffizielle Berater seiner Eminenz des Kardinals in kulturellen Fragen – dieses Gesicht hatte er einmal nahe gesehen, sonst nur flüchtig, wenn es schnell

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