Der Engel Schwieg.
im Laden vorbeiging, um im Privat- zimmer des Chefs zu verschwinden. Es war fast acht Jahre her, aber er erkannte es sofort, blitzschnell zuckte die Leine hoch und
fischte diesen Kopf heraus.
»Was wollen Sie?« fragte das Gesicht…
»Brot« sagte er und reichte den Zettel wie in einen Schalter hinein.
»Es gibt kein Brot mehr.«
Er verstand nicht. »Brot«, sagte er – »aber die Schwester – ich habe doch –«
»Nein«, sagte die Stimme ruhig und sachlich. »Nein, es gibt kein Brot mehr«
Nun tauchten aus dem unteren Bereich die Hände auf lange feinfingrige Hände, sie kamen hoch und hielten den Zettel, der
ein Brot bedeutete, und die Finger zerrissen den Zettel, sie zer-
rissen ihn nicht mit einem einzigen kurzen Ratsch, viermal, fünfmal kreuzten sie sich reißend, immer wieder, mit Freude – man sah es –, es fiel vor die Tür wie Konfetti, weißlich verstreut wie Brotkrümel…
»Da haben Sie Ihr Brot«, sagte die Stimme.
Er begriff es erst, als die Tür zugeschlagen war, ein wackeli- ges, riesiges Stück Holz, zusammengeleimt ein aus Rahmen, Pappestücken und Glas, das nun heftig klirrte und schaukelte
und ein neues Rieseln unsichtbarer Putzstücke verursach…
Er blieb lange stehen und versuchte, irgend etwas zu fühlen: Haß oder Wut oder Schmerz, aber er fühlte nichts. Vielleicht bin ich tot, dachte er. Aber er war nicht tot, er erwachte vollkom- men, als er gegen die Tür trat und den Schmerz verspürte, den das Aufschlagen der Fußspitze ihm verursachte. Aber er konnte keinen Haß entdecken, nicht einmal Wut, nur Schmerz…
X
–––––––––
Als Fischer ins Zimmer zurücktrat, drehte Elisabeth ihr Ge- sicht von der Wand und fragte leise: »Wer war da?«
»Ein Bettler«, sagte er und setzte sich wieder.
»Hast du ihm etwas gegeben?«
»Nein«, sagte er.
Sie seufzte und drehte ihr Gesicht wieder zur Wand. Die Vor- hänge waren zurückgezogen und in den großen dunklen Fenster- rahmen stand das phantastische Bild der Trümmer: rauchge- schwärzte Häuserflanken, geborstene Giebel, die zu stürzen schienen – grünüberwucherte Haufen, die ein zweites Mal aus- gewühlt waren, nur an manchen Stellen war das Grün moosig und friedlich…
»Du hast ihm nichts gegeben – wer war es?«
»Ich weiß nicht«, sagte er, »irgendeiner…«
Sie fing leise an zu weinen, und er horchte auf: bisher hatte sie noch nicht geweint: er sah ihren schmalen Nacken mit dem un- gekämmten Haar, die zitternden Schultern, und hörte dieses merkwürdig brüchige Geräusch ihres Schluchzens. Er war er- staunt und irgendwie berührte es ihn ekelhaft, daß sie die Senti- mentalität so weit trieb.
»Du mußt nicht böse sein«, sagte er, »aber ich möchte zu ei- nem Schluß kommen, zu irgendeinem, du verstehst. Es ist mir persönlich wirklich gleichgültig, obwohl ich Geld für eine zu
ernste Sache halte, als daß man sentimental darüber werden
sollte. Wie gesagt: unser gemeinsamer Schwiegervater wäre zufrieden, wenn du die mündliche Versicherung abgibst, daß du Willis Testament vorläufig als nicht bestehend betrachtest, und aufhörst, über Willis Geld und Sachwerte zu verfügen. Münd- lich, verstehst du, mehr Entgegenkommen kannst du nicht ver- langen – im anderen Falle« – er unterbrach, weil sie plötzlich ihr Gesicht wieder ihm zuwandte, und er wunderte sich über den
Ausdruck von Festigkeit – »käme es eben auf ein juristisches
Duell an, und« – er lachte – »ich halte es für sehr unwahrschein-
lich, daß du mit den bestehenden Unterlagen da siegen wür- dest…«
»Ich könnte versuchen, den Mann zu finden, der mir Willis Testament gebracht hat.« Sie wurde rot in der Erinnerung an den
Auftritt, den sie mit ihm gehabt hatte.
»Gewiß«, sagte er, »aber es ist sehr unwahrscheinlich, daß du ihn finden wirst, und außerdem: was willst du von ihm erfah- ren?«
»Den Ort, wo Willi erschossen wurde. Wahrscheinlich ist er doch dort begraben. Irgend jemand wird ihn schon begraben haben.«
»Nicht übel«, sagte er, »gar nicht übel.« Er schwieg einen Au- genblick nachdenklich und fragte dann: »Also bitte, sag mir: Willst du vorläufig den Unsinn mit der Schenkerei sein lassen, dich mit 2000 Mark monatlich zufrieden geben und…«
»Also eine Art Waffenstillstand – meinetwegen, übrigens«, sagte sie leise, »wenn ich tun könnte, was ich wollte, würde ich dich jetzt ins Gesicht schlagen…«
»Es wäre nicht sehr christlich…«
»Ich weiß«, sagte sie,
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