Der Engel Schwieg.
sanfte Kitzel, den ein Packen Geldscheine in
ihm auslöste – woran er auch denken mochte, immer war die
Langeweile der überwiegende Mischungspartner, sie nahm über- all den größten Raum ein, während ihre Beimischungen: Wol- lust, Überdruß, Ekel, Mitleid, winzig erschienen, erdrückt von ihrer bleiernen Masse…
Für einen Augenblick fiel ihm die Madonna ein, aber zugleich tauchte auch ›Embryo‹ in ihm auf, ein Wort, das alle anderen verscheuchte und stehenblieb: häßlich, weder Langeweile noch Überdruß erregend, sondern Angst; es war ihm immer widerwär- tig gewesen wegen des Ypsilons, das dem O eine unzüchtige Bedeutung zu geben schien: es schien wie ein Geheimwort, einer fremden Sprache entnommen, eingesetzt, um einen ganzen Komplex ebenso geheimnisvoller wie ekelhafter Begriffe auszu- drücken, ein Stenogramm des Grauens, das ihm einfallen und ihn verfolgen würde, sooft er an Madonna denken würde, an irgendeine nur, oder an die Eine: für immer würde Madonna mit Embryo gekoppelt sein, ein schönes Wort mit einem häßlichen, beide einander auslösend wie Spiegelbilder…
Ihm fiel ein, daß er die fünfzehnhundert Mark bereitlegen mußte, und er stand auf. Er schloß den Geldschrank auf, ließ die schwere Tür aufpendeln und griff in die Haufen: zehn Fünfziger, fünfundzwanzig Zwanziger und fünfzig Zehner…
Er ging zum Schreibtisch zurück, legte das Geld in eine Schub- lade, und als er sie zuschloß, fiel ihm auf, daß das Geld roch, im Gegensatz zum Sprichwort: es roch sogar stark, jedesmal spürte er diesen Geruch, wenn er den Geldschrank öffnete: ein süßli- cher schwacher Dunst, süßlich und dreckig, unpersönlich und beziehungsreich, schwach und von einer verblüffenden Ein- dringlichkeit. Wenn er die Tür öffnete, kam ihm eine heftige süßliche Wolke entgegen, süßlicher Dreck, der den Begriff Bor- dell in ihm – auslöste – aber es fiel ihm ein, daß es Blutgeruch
war, der sehr verdünnte, verfeinerte Geruch von Blut…
Er verspürte eine kleine Erleichterung, als ihm Elisabeth ein- fiel: ihr Name, die Erinnerung an sie löste eine seltsame Zärt- lichkeit aus, obwohl er nicht wußte und sich nicht erklären konn- te, wieso, aber es blieb: eine etwas ironische Heiterkeit erfüllte ihn, obwohl er wütend auf sie war, weil sie auch sein letztes Geheimnis entdeckt hatte in dieser spielerischen mühelosen Art, wie sie alles entdeckte…
Jedenfalls erschien ihm die Tatsache originell, daß sie das Ge- setz der Zeit auf den Kopf stellte: anstatt Geld in Sachwerten anzulegen, machte sie Sachwerte zu Geld und verschenkte es: sie verkaufte Familienwerte, zog Geld aus Mietshäusern ein, hob von Konten ab, ließ Bilder und Möbel über den Schwarzmarkt gehen und widmete sich einem neuartigen humanen Sport, in- dem sie Gutscheine für Brot austeilte.
Diese hysterische Manier dünkte ihn lächerlich, zugleich aber imponierend wegen ihrer souveränen Art, die übrigens die Ei- genschaften wirklicher Originalität hatte: sie war starrköpfig, und insgeheim freute er sich auf den Kampf, den sie ihm und dem Alten angesagt hatte – Waffenstillstand, hatte sie gesagt.
Es würde gefährlich werden, wenn es ihr gelänge, den Solda- ten aufzutreiben, der Willis Testament gebracht hatte: man konn- te Willis Leiche ausgraben, seine Identität feststellen, und im gleichen Augenblick, wo sein Tod amtlich beglaubigt wurde, war das Testament rechtskräftig, solange nicht zu beweisen war, daß der Dienststempel oder der Name des Offiziers gefälscht war…
Er schlug mit dem Füllfederhalter gegen den Lampenschirm, um den Sekretär hereinzurufen, und als der devote blasse Bur- sche in der Tür erschien, sagte er freundlich: »Verzeihen Sie, Windeck, ich war eben in Gedanken: Ich freue mich, daß die erste Nummer des Gotteslammes, unsere gemeinsame Arbeit, vorliegt, und glauben Sie nicht, daß ich Ihr Verdienst daran unterschätze. Mögen Sie eine Zigarre?«
Der Sekretär lächelte glücklich, suchte sich aus der vorgehal-
tenen Kiste eine Zigarre heraus und sagte leise: »Danke, Herr Doktor…«
»Nehmen Sie noch eine…« Er nahm noch eine.
Ȇbrigens, gleich kommt eine Frau, die meiner Tochter Blut
gespendet hat – geben Sie ihr auf die Bescheinigung des Kran- kenhauses hin dieses Geld gegen Quittung – fünfzehnhundert Mark…«
»Jawohl«, sagte der Sekretär.
Er sah nicht mehr, daß der Chef die Zigarre aus der Hand legte und den Kopf in die Hände
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