Der Engelmacher
Grundlage von Zucht und Ordnung war Angst. So funktionierte es damals an der Schule der Brüder in Eupen, aber auch an vielen anderen von Geistlichen geleiteten katholischen Schulen. Angst wurde durch Züchtigungen erzeugt, aber auch dadurch, dass man Gott als allmächtige Strafinstanz darstellte, der mit Sündern auf das Strengste verfuhr.
Zorn. Das Wort fiel oft. Der Zorn des Herrn werde die Sünder treffen.
Die Sünder waren die Schüler, und die meisten Geistlichen benahmen sich, als wären sie Gott oder doch zumindest Gottes Stellvertreter auf Erden.
Bruder Rombout war in dieser Hinsicht eine Ausnahme, und doch hat auch er, indirekt und unbewusst, zum Entstehen von Victors Aversion gegen Gott beigetragen. Während andere Schüler in seiner Klasse fünf Tage pro Woche über einfache Geschichten und freundliche Aquarelldrucke an die Bibel herangeführt wurden, durfte Victor ganz hinten in der Klasse sitzen und ungestört die Bibel für die Großen lesen, wie Bruder Rombout sich ausdrückte. Individuelle Förderung hieß das in der Terminologie seiner Lehrmethode: an das Niveau des Einzelnen angepasste Lernanforderungen.
Und Victor las. Natürlich las er. Er versteckte sich hinter dem Buch, er tauchte unter, er verschwand so weit wie möglich in der feierlichen Sprache, die er mit zunehmendem Alter immer besser verstand. Und je mehr er davon verstand, desto deutlicher wurde ihm, dass das Gottesbild, das die meisten Brüder ihm und den anderen Schülern vermittelten, tatsächlich zu dem passte, was in der Bibel über Gott zu lesen stand. Es war, vorsichtig ausgedrückt, kein besonders positives Bild.
Bis zum Alter von vier Jahren können Kinder bei anderen Menschen lediglich Gut und Böse klar unterscheiden. So auch Victor, nur dass sich das bei ihm mit zunehmendem Alter nicht änderte. Normalerweise fangen Kinder nach und nach an, bestimmte Nuancen wahrzunehmen. Sie entdecken, dass in jedem Menschen sowohl Gutes als auch Böses steckt, in unterschiedlichem Maße, unterschiedlich nicht nur von Person zu Person, sondern auch bei ein und derselben Person, je nach der Situation, in der sie sich befindet.
Victor lernte hingegen nie, Nuancen zu unterscheiden. Und so wenig er selbst Gefühle zeigte, so wenig war er in der Lage, Gefühle bei anderen differenziert wahrzunehmen. Für ihn war alles entweder schwarz oder weiß. Das Grau dazwischen existierte für ihn nicht. Das war nicht seine Schuld, er konnte es sich gar nicht anders vorstellen. Das Asperger-Syndrom beschränkte seine Sichtweise.
Hätte sich jemand auf ganz persönliche Art seiner angenommen, so wie ein Vater oder eine Mutter sich ihres Kindes annehmen, dann hätte Victor vielleicht mit der Zeit doch noch entdeckt, dass jeder Mensch eine ganze Palette von Gefühlen zu empfinden und zu zeigen in der Lage ist. Vielleicht wäre er dann aufgeblüht, im weitesten Sinne des Wortes, so aber war er wie eine Knospe, die nie zur Blume reifte. Und im Internat wurde das Bild in Schwarz-Weiß, das er sich von der Welt und den Menschen machte, immer wieder aufs Neue bestätigt. Die oberflächlichen Kontakte hatten daran natürlich einen großen Anteil, aber auch die Brüder selbst. Sie verstanden sich meisterhaft darauf, ihre wahren Gefühle zu verbergen, voreinander ebenso wie vor den Schülern, oder sie versuchten zumindest, sich keinerlei Regung anmerken zu lassen. Victor konnte keine Gefühle zeigen, die Brüder durften es nicht oder taten es nicht. Auch Bruder Rombout nicht. Er bewies stets seine Güte, das durchaus, aber mehr nicht. Was in ihm vorging, worüber er brütete und nachdachte, was er fühlte oder wonach er sich sehnte, all das offenbarte er nie. Wie sollte Victor also je die Erfahrung machen, dass es mehr gab als nur Gut und Böse?
Je mehr Erfahrungen Victor machte, desto mehr brachte er Gut und Böse mit konkreten sinnlichen Wahrnehmungen in Zusammenhang: mit einer Stimme, die an sein Ohr drang, oder mit einer Berührung, die er spürte oder sah. In Gesichtern zu lesen, darauf verstand er sich schließlich nicht.
Eine Stimme bestand aus Volumen und Resonanz. Je lauter eine Stimme war, je mehr Volumen sie hatte, desto größer war auch ihre Resonanz. Darin lag das Böse verborgen.
Bruder Rombout sprach immer ganz leise, und wenn er sang, dann mit einer hohen Stimme. Nicht mit einem dumpf dröhnenden Bass wie viele andere Brüder. Es war ein Genuss, Bruder Rombouts Stimme zuzuhören.
Bruder Lucas aus der dritten und vierten Klasse und
Weitere Kostenlose Bücher