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Der Engelmacher

Der Engelmacher

Titel: Der Engelmacher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Brijs
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Bruder Thomas aus der ersten hatten Stimmen wie die tiefsten Töne der Orgel in der Kapelle. Aber was die Orgel nicht konnte, das konnten sie: die Klänge vibrieren lassen, während alle Register zugleich gezogen waren. Victor fühlte sich zwar nicht direkt von diesen Stimmen angegriffen, sehr wohl aber hörte er sie durch das Mauerwerk des Klassenzimmers hindurch. Sie klangen wie vorüberziehendes Gewitter, und Victor stellte sich vor, wie Gott aus einer der Unwetterwolken Blitze zu den Schülern herabschickte, denn wenn die Brüder ihre Stimmen erhoben, taten sie das meist im Namen Gottes.
    »Der Zorn des Herrn wird über dich kommen.«
    »Fürchte den Tag des Urteils, denn dann wird Gott dich zu finden wissen.«
    »Gottes Rache wird unerbittlich sein.«
    Pater Norbert, der meist den Abendunterricht gab, hatte ebenfalls eine Stimme, in der das Böse wohnte. Das hatte Victor am eigenen Leibe erfahren. Er wusste nicht warum, aber einmal hatte der Pater ihm mit donnernder Stimme etwas zugerufen. Er ließ seine donnernde Stimme eigentlich ständig durch den Raum schallen, aber bisher war Victor selbst davon verschont geblieben.
    »Nehmt euch ein Vorbild an Victor.«
    Das rief er den anderen oft zu. Aber jenes eine Mal hatte er sich direkt an Victor gewandt.
    »Sieh mich an, Victor Hoppe! Sieh mich an, wenn ich mit dir spreche!«
    Aber er hatte es nicht gekonnt. Er hatte nicht zu Pater Norbert aufsehen können. Er hatte es gewollt, aber nicht gekonnt. Er hatte nicht einmal den Kopf bewegen können, es war, als wäre der in seiner gesenkten Position festgenagelt. Dann hatte er eine heftige Ohrfeige bekommen.
    »Dafür wird Gott dich strafen, Victor Hoppe!«
    Menschliche Berührungen. Auch darin zeigte sich entweder Böses oder Gutes. Eine solche Ohrfeige war böse. Doch nicht nur die Schläge von Pater Norbert waren böse, sondern auch seine Angewohnheit, das Ohr eines Schülers zwischen Daumen und Zeigefinger so lang zu ziehen, dass dem Betreffenden Tränen in die Augen traten. Das hatte Victor oft mit angesehen. Auch die Praxis, ein hölzernes Lineal auf die Finger der Schüler niedersausen zu lassen, war böse. Das taten Bruder Lucas und Bruder Thomas. Die Schüler, die bei ihnen in der Klasse saßen, hatten schon oft die blauen Striemen auf ihren Fingern vorgezeigt.
    In den Berührungen von Bruder Rombout erkannte Victor das Gute. Diese Berührungen waren sanft. Eine Hand auf seiner Schulter. Eine Hand, die über sein Haar strich. Die Art und Weise, wie der Bruder sich über ihn beugte und seine Schreibhand dirigierte. Das alles war gut.
    Und Gott? Bei dem Bild, das Victor sich von Gott machte, spielten die Worte von Bruder Thomas, Bruder Lucas und Pater Norbert eine große Rolle. Immer wieder stellten sie Gott als bedrohlich dar, als jemanden, der verurteilte und strafte, als allmächtigen Herrscher und Machthaber. So kam Victor, der nicht in der Lage war zu relativieren, der das Abstrakte nicht vom Wesentlichen unterscheiden konnte, zu dem Schluss, dass Gott selbst die Quelle des Bösen sei.
    Und dieses Gottesbild, dieses Furcht erregende Bild, fand er immer öfter in der Bibel bestätigt, die Bruder Rombout ihn ungestört lesen ließ, ohne sich zu fragen, was Victor von seiner Lektüre wohl im Kopf behielt. Nämlich: Gott entfesselte Kriege, Gott verwüstete Städte, Gott schickte Naturkatastrophen. Gott strafte, Gott tötete.
    Gott gibt und Gott nimmt, Victor. Merk dir das.
    Gott gab, allerdings, aber für alles, was Gott gab, nahm er genauso viel zurück. Das war es, was Victor schließlich behielt.
     
    Jesus war gut.
    Das Neue Testament offenbarte sich Victor erst, als er in die fünfte Klasse kam. Er hatte zwar früher schon einmal darin gelesen, aber noch nicht mit den Einsichten, die er sich in über zwei Jahren auf dem Internat erworben hatte.
    Victor las, wie Jesus die Hungrigen speiste. Wie Jesus Stürme besänftigte. Wie Jesus Kranke heilte. Wie Jesus Tote zum Leben erweckte.
    Victor entdeckte, dass Jesus nicht drohend seine Stimme erhob und dass er auch nicht schlug oder strafte.
    Jesus war also gut.
    Für Victor war das nicht nur eine Offenbarung, sondern auch eine Beruhigung. Jesus war schließlich der Sohn Gottes. Der Vater tat Böses, der Sohn tat Gutes. Das erkannte er wieder, und deshalb war es so beruhigend für ihn. Es ist keineswegs übertrieben zu behaupten, dass er in Jesus einen Freund sah. Jesus war auch wirklicher als Gott. Körperlicher. Menschlicher. Von Jesus konnte Victor sich

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