Der Engelspapst
Winds hinaus und flohen in die nahe Stadt.
Die hartgesottenen Legionäre wirkten nicht länger unerschütterlich. Für sie war der Sandsturm ein Zeichen dafür, dass die Götter zornig waren. Ihre entsetzten Mienen verrieten, dass sie den sonst so verachteten Juden am liebsten hinterhergelaufen wären. Als dicker Sandnebel die Schädelstätte umhüllte, zogen sie Tücher vor ihre Gesichter und verbargen die Köpfe hinter den länglichen Schilden.
Der Chamsin rollte heran und ließ eine kräftige Tamarinde am Fuß des Hügels bis in die Wurzeln erbeben. Dann wurde es schwarz vor Jeschuas Augen, und Sand drang in jede Öffnung von Gesicht und Leib. Ihm war es nur recht, dass der Sand seine Atemwege verklebte. Umso eher kam der Tod und mit ihm die Erlösung. Doch der Sturm brach nicht mit aller Heftigkeit über Golgatha herein. Er schüttelte nur drohend die sandige Faust und drehte dann so plötzlich ab, wie er über der Wüste erschienen war.
Jeschua erblickte eine Gestalt, die sich undeutlich aus dem zurückweichenden Sandnebel schälte. Er meinte, das Gesicht schon gesehen zu haben, doch es fiel ihm kein Name dazu ein; Schmerz und Erschöpfung ließen ihn keinen klaren Gedanken mehr fassen. Vielleicht täuschte er sich auch, als er glaubte, das faltige Antlitz aus dem weiteren Kreis seiner Gefolgschaft zu kennen. Denn der Mann spottete über den Gekreuzigten und rief den Römern zu, dass es doch schade wäre, wenn der Chamsin der Qual ein zu schnelles Ende bereitete.
«Erlaubt mir, seinen Mund und seine Nase mit Essigwasser zu säubern. Und wenn der Judenkönig etwas davon trinkt, wird jeder Schluck seine Widerstandskraft und damit seine Qual nur verlängern.»
Die Soldaten hielten ihn nicht auf. Ihnen war in diesem Augenblick egal, was mit dem jüdischen Aufrührer geschah.
Fluchend spuckten sie den Sand aus und rieben sich die geröteten Augen.
Der Spötter reckte Jeschua einen Schwamm entgegen, der auf einen gegabelten Stock gesteckt war, so als scheue der Mann sich, das Essigwasser zu berühren. Dabei war das Kreuz nicht sonderlich hoch, und er hätte nur den Arm auszustrecken brauchen, um das Gesicht des Gekreuzigten zu erreichen.
Kühl und feucht strich der Schwamm über Jeschuas Gesicht.
Aber er freute sich nicht über die Erleichterung, die nur eine Verlängerung des Leidens bedeutete, für ihn und für seine Mutter Mirjam, die mit ihren Freundinnen und Johanan auch während des Sandsturms ausgeharrt hatte. Er presste die Lippen aufeinander, um nicht von der Flüssigkeit zu trinken.
«Sauf nur, Judenkönig!», höhnte der Mann vor ihm. «Für dich ist es das Wasser des Lebens! Mein Herr schickt es dir mit eindringlichen Grüßen.»
Unter dem Spott schwang etwas anderes in seinem Ton mit, ein verborgener Ernst. Ein Mahnen, ein Flehen. Und wer war sein Herr? Jetzt erinnerte Jeschua sich deutlicher an den Mann, wenn auch nicht an seinen Namen. Er war einer aus der Dienerschaft des hoch angesehenen Joseph, der dem Sanhedrin angehörte, dem Hohen Rat, der Jeschua zum Tod verurteilt hatte. Joseph, der insgeheim zu Jeschuas Anhängern zählte, hatte das Urteil nicht verhindern können. Als die Tempelwächter Jeschua zur Bestätigung des Urteils dem römischen Statthalter überantworteten, hatte Joseph ihm zugeraunt: «Bleibe stark im Glauben, Rabbi! Ich werde dir beistehen, wo ich kann.»
Als Jeschua sich daran erinnerte, sperrte er sich nicht länger gegen das Essigwasser. Er riss den Mund auf, nahm den Schwamm zwischen die Zähne und sog daran wie ein dürstendes Kind an der Mutterbrust. Die Flüssigkeit erfüllte ihn mit einem heftigen Brennen, das bald wohliger Wärme und dann einer Art Betäubung wich.
War es ein Fehler gewesen, dem Mann zu vertrauen und von dem Schwamm zu trinken? Er dachte an seine vielen Feinde, denen nicht an einer Verkürzung seiner Leiden gelegen war, sehr wohl aber an seinem sicheren Tod. Als er seinen Zorn hinausschreien wollte, kam nur ein Krächzen über seine schon tauben Lippen.
Die Taubheit kroch mit leichtem Kribbeln in jedes Glied und breitete sich bis in die Finger- und Zehenspitzen aus. Er fühlte sich unendlich müde, sah keine Gesichter mehr, keine Menschen, hörte keine Stimmen. Sein eigenes Herz hörte er nicht länger schlagen, zum Atmen war er zu schwach. Aber das spürte er kaum noch, denn alles in ihm erstarb.
«Jeschua hing bereits nach überraschend kurzer Zeit leblos am Kreuz. Üblicherweise dauerte es an die sechsunddreißig Stunden, bis ein
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