Der Engelspapst
Kleriker saßen mit versteinerten Gesichtern da. Kardinal Musolino ballte die Hände zu Fäusten und erweckte den Eindruck, sich mit aller Gewalt bezähmen zu müssen. Eine Wiedervereinigung der Katholiken mit den Protestanten mochte manchem kirchlichen Würdenträger so unwahrscheinlich vorkommen, wie es vor einigen Jahren noch die Wiedervereinigung Deutschlands gewesen war. Weitaus betroffener aber blickten die Kurialen drein, die dem Papst zutrauten, dass er sein Versprechen verwirklichte. Ein Zusammengehen beider Kirchen unter Opfern konnte nur eins bedeuten: das Aufgeben kirchlicher Dogmen, die Verringerung der eigenen Macht.
Im neuerlichen Trubel gelang es einem Kind, sich zwischen den Fotografen und Kameraleuten hindurchzuzwängen. Ein sechs oder sieben Jahre altes Mädchen in einem blauen Kleid kletterte vor Alexander auf die Bühne. Er wollte die Kleine festhalten, bevor sie das Papstpodest erreichte, aber Custos erhob sich mit einer unmissverständlichen Geste in seine Richtung. Der Schweizer sollte auf seinem Platz bleiben.
Der Heilige Vater beugte sich vor und setzte das Mädchen auf seinen Schoß. «Sag mir deinen Namen, Kind.»
Die Antwort kam zögerlich und leise: «Lea.»
Custos lächelte sie an. «Du möchtest mich also begrüßen, Lea.»
«Nein.»
Einige Zuschauer lachten und auch der Papst schmunzelte.
«Nein?», fragte er. «Weshalb bist du dann zu mir gekommen?»
«Weil du gesagt hast, dass du der ganzen Welt helfen willst.
Das stimmt doch, oder?»
«Ich will es versuchen, ja.»
Eine skeptische Falte bildete sich über der Nase des Mädchens. «Kannst du der Welt helfen oder nicht?»
«Das ist eine schwierige Aufgabe, besonders wenn die Welt sich nicht helfen lassen will. Siehst du das ein, Lea?»
Das Mädchen dachte angestrengt nach und nickte. «Natürlich ist das schwer. Aber du könntest es schaffen, nicht?»
«Mit ein wenig Glück und vor allem mit der Hilfe Gottes könnte ich das.»
«Die Welt ist ja auch groß und es gibt so viele Menschen», seufzte Lea verständnisvoll. «Einzelnen Menschen zu helfen ist bestimmt einfacher.»
«Das ist es.»
«Gut.» Die großen braunen Augen des Mädchens blitzten auf.
«Dann hilf bitte meiner Mama!»
«Wo ist sie denn?»
Lea zeigte in den Zuschauerraum. «Da unten.»
«Hat sie dich geschickt, damit du mich um Hilfe bittest?»
«Nein, ich bin einfach losgelaufen.»
«Und deine Mama konnte dich nicht festhalten?»
«Wie denn, wenn sie sich nicht bewegen kann?»
«Ich verstehe», murmelte Custos. «Deine Mama ist krank, nicht wahr?»
«Ja. Sie ist gelähmt von dem Unfall, bei dem mein Papa gestorben ist. Er ist jetzt schon bei Gott, weißt du?»
«Sicher ist er da.» Der Papst setzte das Mädchen ab und erhob sich. «Bring mich zu deiner Mama, Lea.»
Fotografen und Kameraleute überschlugen sich fast, um einzufangen, wie der Papst mit dem kleinen Mädchen an der Hand von der Bühne stieg. Die Vatikanisten wären am liebsten von der Pressetribüne in den Zuschauerraum gesprungen.
Alexander entdeckte Elena Vida auf der Tribüne und schaute rasch weg. Der Gedanke an die Begegnung mit der schönen Journalistin vor vier Tagen schmerzte ihn und lenkte ihn von seinen Aufgaben ab.
Leas Mutter war vom Hals an abwärts gelähmt. Ihr Rollstuhl stand zwischen anderen vor der vordersten Sitzreihe. Auf den Stühlen dahinter saßen die betreuenden Pfleger oder Angehörige. Custos beugte sich zu der gelähmten Frau hinunter und sprach leise mit ihr. Er nahm sich Zeit und schien die Anwesenheit der vielen tausend anderen Menschen ganz vergessen zu haben. Unvermittelt schloss er die Frau in die Arme und drückte sie gegen seine Brust, wie ein Vater, der sein Kind in inniger Umarmung liebkost.
Alexander verfolgte die Szene gebannt und konnte später nicht sagen, ob der Papst und die Frau eine Minute oder zehn in dieser engen Umarmung verharrt hatten. Irgendwann erfasste den Heiligen Vater ein heftiges Zittern. Es sah aus wie ein plötzlicher Anfall von Schüttelfrost. Noch immer hielt er die Frau fest. Das Zittern wurde stärker.
Nun hielt es Alexander nicht länger auf seinem Platz.
Zeitgleich mit Don Shafqat sprang er von der Bühne – und kam gerade rechtzeitig, um den Papst aufzufangen. Wie von der Faust eines Unsichtbaren getroffen, löste Custos sich von der Frau im Rollstuhl und taumelte rückwärts. Hätte Alexander nicht die Hellebarde fallen gelassen und Seine Heiligkeit gehalten, wäre Custos zu Boden gegangen. Der Papst
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