Der Engelspapst
Journalistin und beendete das Gespräch.
Zufrieden steckte Alexander das Handy zurück in die Jackentasche. Er setzte seine Suche nach Raffaela fort – und wäre fast mit ihr zusammengestoßen. Sie hatte am Boden gehockt und Ledergürtel aus einem großen Karton genommen. Als sie aufstand und sich Alexander gegenübersah, wich sie so abrupt zurück, dass sie über den Karton stolperte. Alexander konnte sie, bevor sie das Gleichgewicht verlor, gerade noch festhalten. Das war keine große Mühe, sie war ebenso leicht wie zierlich.
Auch heute trug sie das Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Das dunkle Kleid, fast mehr ein Kittel, war von der tristen Einheitsfarbe, mit der alle Angestellten von Magazin und Annona bekleidet waren. An der Brust war ein Namensschild befestigt: R. Sini. Ihm fiel auf, dass Raffaela Sini sich nicht geschminkt, noch nicht einmal Lippenstift aufgelegt hatte.
Entweder war das Ausdruck ihrer Trauer oder eine Anweisung des Governatorats, die verhindern sollte, dass die Geistlichen beim Einkauf auf sündige Gedanken kamen. Als einzigen Schmuck trug sie ein silbernes Kreuz an einer feingliedrigen Halskette. «Was wollen Sie von mir?» Raffaela sprach leise, mit vor Unsicherheit zitternder Stimme. Ihre geweiteten Augen starrten ihn furchtsam an.
Alexander ließ sie los und antwortete ruhig: «Ich möchte ein paar Antworten.»
«Auf welche Fragen?»
«Zum Beispiel auf die, warum Sie sich vor mir ängstigen.»
«Das tue ich nicht.»
«Ich habe einen anderen Eindruck. Und das war schon gestern so, auf dem Friedhof, als Sie vor mir fortliefen.»
Sie überlegte kurz: «Ich wüsste nicht, was ich Ihnen sagen könnte.»
«Ich schon. Immerhin waren Sie mit dem Mann befreundet, der meinen Onkel und meine Tante erschossen hat.»
«Befreundet …», hauchte sie. Es klang, als denke sie über den Begriff nach.
«Etwa nicht?», fragte Alexander ein wenig lauter. «Ich spreche von Marcel Danegger, von dem Mann, in dessen Grab Sie gestern einen Rosenstrauß geworfen haben. Erinnern Sie sich, Signorina?»
«Ja, natürlich, Marcel … Wir kannten uns.»
«Davon bin ich ausgegangen. Marcel und ich waren zwar Kameraden, aber Sie kannten ihn wohl besser als ich.»
«Ich weiß nicht.»
«Lassen Sie es uns herausfinden!»
Wieder weiteten sich ihre Augen. Diesmal galt ihr ängstlicher Blick nicht Alexander, sondern einem älteren, fast kahlköpfigen Mann in der tristen Uniform der Magazinangestellten, der hinter dem Gardisten aufgetaucht war.
«Ist etwas nicht in Ordnung, Raffaela?», fragte er.
«Alles bestens, Signor Martini, danke.» Raffaela lächelte krampfhaft.
Nach einem langen misstrauischen Blick auf Raffaela und Alexander zog Signor Martini sich zu den Anzügen und Westen zurück. Bevor sein rundlicher Kopf hinter einer Anprobekabine verschwand, wandte er sich noch einmal zu ihnen um.
«Wir können jetzt nicht reden, nicht hier», sagte Raffaela leise, beinahe flehentlich.
«In Ordnung. Wann und wo treffen wir uns?»
«Ich könnte heute Abend erst ab zehn.»
«Ist mir recht, bis Mitternacht ist Ausgang. Aber das wissen Sie ja wohl, Signorina. Wo finde ich Sie?»
«Ich habe im Trastevere zu tun. Treffen wir uns auf der hiesigen Seite des Ponte Sisto. Und jetzt gehen Sie, bitte!»
Er nickte und fischte einen braunen Gürtel aus dem Karton.
Laut sagte er: «Den nehme ich. Danke für die gute Beratung, Signorina.»
Als er das Magazin verließ, war er sehr zufrieden. Raffaelas ängstliches Verhalten belegte, dass sie etwas zu verbergen hatte.
Was genau, das würde er am Abend herausfinden. Außerdem war er mit der Journalistin verabredet. Der kleine Bauer machte seine eigenen Züge, und Zug um Zug gewann er die Initiative.
Ein ohrenbetäubendes Rattern ließ ihn zusammenzucken. Die Bauarbeiter, die mit dem Ausbau der Tiefgarage beschäftigt waren, hatten ihre ausgedehnte Mittagspause beendet und taten das durch den Einsatz zweier Presslufthämmer in der Nähe des vatikanischen Bahnhofs lautstark kund. Erst ein paar Jahre zuvor war die unterirdische Garage zwischen dem Bahnhof und der kleinen Kirche Santo Steffano degli Abissini gebaut worden, um das Gelände des Vatikans und besonders den Belvederehof von der ständig wachsenden Anzahl parkender Autos zu entlasten.
Nun sollte eine weitere Etage ausgebaut werden, um die Kapazität auf fünfhundert Stellplätze zu verdoppeln. Das Gelände zwischen Stefanskirche und Bahnhof war mit Baufahrzeugen und Material voll gestellt. Statt des
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