Der Engelsturm
hob Geloë den Kopf. »Nein.« Tiamak konnte ihre Stimme, ein kehliges Wispern, kaum hören. »Ich sterbe.«
Aditu beugte sich zu ihr und streckte die Arme aus. »Kommt, ich helfe Euch.«
»Nein!« Geloës Stimme wurde kräftiger. »Nein, Aditu … es ist … zu spät. Der Dolch hat mich getroffen … ein Dutzend Mal.« Sie hustete, und ein schmales, dunkles Rinnsal tropfte über ihr Kinn und glänzte im Schein der brennenden Zelte. Tiamak starrte sie an. Hinter ihr erkannte er Füße und Beine, die Camaris gehören mussten. Der Rest der langen Gestalt des Ritters lag im Gras, verdeckt von Geloës Schatten. »Ich muss fort.« Geloë versuchte vergeblich aufzustehen.
»Vielleicht gibt es etwas …«, begann Aditu.
Geloë lachte matt, hustete wieder und spie einen Blutklumpen aus. »Glaubt Ihr, ich wüsste nicht, wie es um mich steht?«, fragte sie. »Ich bin … viele Jahre … Heilerin gewesen.«
Sie streckte eine zitternde Hand aus. »Helft mir. Helft mir auf.«
Aditus Gesicht, das einen Augenblick so bestürzt ausgesehen hatte wie nur irgendein Menschengesicht, betrachtete die Waldfrau nun mit feierlichem Ernst. Sie griff nach Geloës Hand, bückte sich und nahm auch den anderen Arm der Waldfrau. Langsam kam Geloë auf die Füße. Sie schwankte, und Aditu stützte sie.
»Ich muss … fort. Ich will nicht hier sterben.« Die weise Frau löste sich von Aditu und tat ein paar unsichere Schritte. Der Mantel glitt von ihr ab. Nackt stand sie im tanzenden Licht des Feuers. Ihre Haut war schweißnass und blutverschmiert. »Ich will zurück in meinen Wald. Lasst mich gehen, solange ich noch kann.«
Aditu zögerte noch einen Augenblick, wich dann zurück und senkte den Kopf. »Wie Ihr wünscht, Valada Geloë. Fahrt wohl, Geliebte Ruyans. Fahrt wohl … meine Freundin. Sinya’a du-n’sha é-d’treyesa inro.«
Zitternd hob Geloë die Arme und ging einen weiteren Schritt nach vorn. Die Flammen schienen noch heißer zu werden, denn Tiamak, der noch immer am Boden lag, sah, wie Geloë zu flimmern anfing. Ihr Umriss verschwamm, und dort, wo sie stand, stieg eine Wolke aus Schatten oder Rauch auf. Es war, als ströme die Nacht selbst an dieser Stelle zusammen, als habe das Gesichtsfeld des Wranna dort einen Riss bekommen.
Die Eule kreiste langsam über dem Fleck, an dem eben noch Geloë gestanden hatte, und flog dann tief über dem windzerzausten Gras davon. Ihre Bewegungen waren steif und mühsam, und mehrmals schien es, als verlöre sie den Wind unter den Schwingen und stürze taumelnd zur Erde. Aber sie setzte ihren unsicheren Flug fort, bis der nächtliche Himmel sie verschluckte.
Tiamak war noch immer schwindlig, und in seinem Kopf hämmerte es schmerzhaft. Er sank zurück und wusste nicht recht, was er wirklich gesehen hatte, nur, dass etwas Schreckliches geschehen war. Eine tiefe Trauer wartete irgendwo ganz in der Nähe auf ihn. Er hatte es nicht eilig, ihr zu begegnen.
Aus dem schwachen Murmeln entfernter Stimmen wurde lautes Geschrei. Beine liefen an ihm vorüber, die Nacht war plötzlich wild bewegt. Es rauschte und Dampf zischte auf: Jemand hatte einen Eimer Wasser in die brennenden Überreste von Camaris’ Zelt geschüttet.
Gleich darauf spürte er Aditus kräftige Hände unter seinen Armen. »Sie werden Euch zertrampeln, mein Tapferer aus den Marschen«, sagte sie ihm ins Ohr und zog ihn beiseite, fort von dem Brand und in die kühle Dunkelheit zwischen zwei vom Feuer nicht erfassten Zelten. Dort ließ sie ihn liegen, kam aber nach kurzer Zeit mit einem Wasserschlauch wieder. Sie presste ihn an Tiamaks aufgesprungene Lippen – es dauerte lange, bis er begriff, um was es sich handelte – und ließ ihn dann trinken. Tiamak schluckte gierig.
Über ihm ragte plötzlich ein schwarzer Schatten auf und sank neben ihm nieder. Es war Camaris. Wie Aditus waren auch seine silbrigen Haare versengt und rußgeschwärzt. Aus dem mit Asche verschmierten Gesicht starrte ein gehetzter Blick. Tiamak reichtedem Ritter den Wasserschlauch und stieß Camaris so lange an, bis er ihn an die Lippen führte.
»Gott sei uns gnädig …«, krächzte der Alte. Benommen sah er in das sich ausbreitende Feuer und auf die brüllende Menge, die es zu löschen versuchte.
Aditu erschien und setzte sich zu ihnen. Als Camaris ihr den Wasserschlauch anbot, nahm sie ihn, tat einen einzigen tiefen Zug und gab ihn zurück.
»Geloë …?«, fragte Tiamak.
Aditu schüttelte den Kopf. »Stirbt. Sie ist fortgegangen.«
»Wer …« Tiamak
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