Der Engelsturm
zu essen.«
»So viel Graben und ein Nichts als Ergebnis«, bemerkte der Troll klagend und betrachtete seine verbundenen Hände. »Erde und wieder Erde und noch mehr Erde.«
»Wenigstens sind diese … Wesen nicht wiedergekommen.« Die Sonne war bereits hinter dem westlichen Horizont gesunken und Miriamel konnte in den Tiefen ihres Reisesacks kaum noch etwas erkennen. Sie setzte sich hin, zog den Mantel über ihrem Schoß glatt und kippte den Inhalt des Sacks hinein. »Diese Gräber.«
»Beinah wünschte ich, sie hätten sich eingefunden. Eine kleine Freude wäre es für mich gewesen, mehr von ihnen zu töten. Wie Qantaqa hätte ich unter ihnen gewütet.«
Miriamel schüttelte den Kopf, verwirrt von Binabiks ungewohntem Blutdurst, verstört von der Leere in ihrem eigenen Innern. Sie empfand keinen Zorn – eigentlich empfand sie gar nichts. »Wenn er noch lebt, wird er auch einen Weg finden, zu uns zurückzukommen.« Das Gespenst eines Lächelns huschte über ihre Züge. »Er ist stärker geworden, als ich es je für möglich gehalten hätte, Binabik.«
»Ich erinnere mich, wie ich ihm im Wald zum ersten Mal begegnet bin«, sagte der Troll. »Wie ein Nestling, wie ein Vogeljunges schien er mir, und sein Haar sträubte sich nach oben und in alle anderen Richtungen. Damals dachte ich: Hier ist etwas, das schnellsterben würde, wenn ich es nicht gefunden hätte. So hilflos sah er aus, wie das Lamm mit den allerwackligsten Beinen, das die Herde verloren hat. Doch vielfach hat er mich seitdem überrascht, o ja, sehr oft.« Er stieß einen Seufzer aus. »Wenn da etwas unter ihm war außer Erde und mehr Boghanik, so denke ich, dass er einen Weg hinaus entdecken wird.«
»Natürlich.« Miriamel starrte auf die Päckchen in ihrem Schoß. Ihre Augen waren feucht, und sie hatte vergessen, was sie eigentlich suchte. »Natürlich.«
»Und darum wollen wir weiterhin auf das Glück vertrauen, das ihn so lange bewahrt hat trotz zahlreicher Augenblicke grässlicher Gefahr.« Binabik sprach, als befürchte er Widerspruch.
»Ja. Gewiss.« Miriamel hob die Hände an das Gesicht und knetete ihre Schläfen, wie um ihre zerstreuten Gedanken zu ordnen. »Und ich werde ein Gebet an Elysia, die Mutter Gottes, richten, damit sie ihn behütet.«
Aber es werden jeden Tag so viele Gebete gesprochen, dachte sie, und so wenige erhört. Verdammt, Simon, warum hast du mich hier allein gelassen?
Simons Anwesenheit war fast stärker spürbar als vorher, als er wirklich bei ihnen gewesen war. Obwohl Miriamel Binabik sehr gern hatte, fiel es ihr schwer, mit ihm vor dem dünnen Eintopf zu sitzen, den sie zum Abendessen gekocht hatte; fast erschien es ihr wie eine Beleidigung ihres verschwundenen Freundes, dass sie am Leben waren und zu Abend aßen. Dennoch waren sie beide dankbar für das Stückchen Fleisch – ein Eichhörnchen, das Qantaqa ihnen gebracht hatte. Miriamel hätte gern gewusst, ob die Wölfin zuerst für sich gejagt oder geglaubt hatte, sie müsste ihrem Herrn eine Beute bringen, bevor sie für sich selbst sorgte. Binabik wusste darauf jedoch auch keine Antwort.
»Nur manchmal bringt sie etwas für mich, meistens dann, wenn ich traurig oder verwundet bin.« Ein winziges Aufblitzen der Zähne. »Diesmal bin ich beides.«
»Jedenfalls bin ich ihr sehr dankbar«, meinte Miriamel. »Unsere Vorräte sind fast erschöpft.«
»Hoffen will ich …«, begann der Troll und verstummte sofortwieder. Miriamel ahnte, dass er an Simon dachte, der, selbst wenn er überlebt hatte, ohne Nahrung irgendwo unter der Erde steckte. Keiner von ihnen sagte noch etwas, bevor sie aufgegessen hatten.
Danach erkundigte Binabik sich sanft: »Was also ist das Ding, das wir nun tun müssen? Ich wünsche nicht auszusehen, als drängte ich, aber …«
»Ich habe immer noch vor, meinen Vater aufzusuchen. Daran hat sich nichts geändert.«
Binabik sah sie an, erwiderte aber nichts.
»Aber du musst mich nicht begleiten.« Ihr Ton gefiel ihr selber nicht, als sie hinzufügte: »Vielleicht ist es sogar besser, wenn du es nicht tust. Wenn Simon einen Weg ins Freie findet, wird er vielleicht wieder hierherkommen. Es sollte jemand auf ihn warten. Außerdem bist du in keiner Weise verpflichtet, mich zu begleiten, Binabik. Elias ist mein Vater, aber er ist dein Feind.«
Der Troll schüttelte den Kopf. »Wenn wir an den Ort kommen, an dem kein Umkehren möglich ist, werde ich eine Entscheidung fassen. Hier, dünkt mich, ist kein Platz, an dem ich in Sicherheit
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