Der Engelsturm
uns dort umsehen.«
»So soll es sein.« Der Troll streckte sich. »Eine Nacht noch wollen wir an dieser Stelle schlafen, dann klettern wir hinab zu den Pferden.«
»Hoffentlich haben sie genug zu fressen gehabt. Sie waren so lange allein.«
»Nachdem sie das Gras verspeist haben, werden sie als Nächstes die Lederriemen durchkauen, die sie binden, so viel scheint mir offensichtlich. Die Pferde werden keinen Mangel leiden, aber es kann sein, dass wir keine Pferde mehr finden werden.«
Miriamel zuckte die Achseln. »Nun – wie du immer sagst: ›Wir können es nicht ändern, so lange wir nicht da sind‹.«
»Das sage ich, weil es von großer Wahrhaftigkeit ist«, erklärte Binabik feierlich.
Rachel der Drache wusste, was sie erwartete, und hatte sich damit abgefunden, aber das machte die Tatsache nicht weniger schrecklich. Schon seit acht Tagen waren Essen und Wasser unberührt geblieben.
Mit einem betrübten Gebet um Geduld zur heiligen Rhiappa sammelte Rachel die Sachen, die sich nicht halten würden, wieder auf und verstaute sie in ihrem Beutel. Den kleinen Apfel und das hartgewordene Brot würde sie heute Abend essen. Sie ersetzte die verschmähten durch frische Gaben und hob auch den Deckel von der Wasserschüssel, um zu prüfen, ob der Inhalt noch sauber und trinkbar war.
Ihre Miene verdüsterte sich. Wo war nur dieser arme Guthwulf geblieben? Sie mochte die Vorstellung nicht, dass er vielleicht blind in der Finsternis herumirrte und den Weg zu den regelmäßigen Mahlzeiten, mit denen sie ihn versorgt hatte, nicht mehr fand. Fast war sie versucht, sich selbst auf die Suche nach ihm zu machen – sie war in den letzten Tagen schon weiter umhergestreift als gewöhnlich –, aber sie wusste, dass es ein zu großes Wagnis bedeutete. Je tiefer sie in diese Tunnel hinabstieg, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, dass sie stürzen und sich den Kopf stoßen oder in ein Loch fallen konnte. Dann wäre sie hilflos. Selbst wenn sie sich um den blinden Guthwulf sorgte, um die alte Rachel machte sich niemand Gedanken.
Die Falten auf ihrer Stirn vertieften sich. Vielleicht war es Guthwulf so ergangen. Vielleicht lag er irgendwo verletzt am Boden, nur wenige hundert Ellen entfernt. Die Vorstellung, dass sie jemandem, der ihre Hilfe brauchte, nicht helfen konnte, quälte sie wie eine schwärende Wunde. Einst war sie die Herrscherin über alle Dienstleute der Burg gewesen, fast selbst eine Königin über ihr eigenes Reich. Jetzt konnte sie nicht einmal das Nötige für einen armen, verrückten Blinden tun.
Rachel schulterte ihren Beutel und stapfte die Stufen wieder hinauf, ihrem verborgenen Schlupfwinkel zu.
Als sie den Wandteppich zur Seite gerafft und die Tür in den gutgeöltenAngeln nach innen geschoben hatte, zündete sie eine ihrer Laternen an und schaute sich im Raum um. In gewisser Weise war dieses einsame Leben beinah erholsam. Die Kammer war so klein, dass man sie leicht sauber halten konnte, und weil außer ihr niemand hier lebte, konnte Rachel sicher sein, dass alles genauso getan wurde, wie es sich gehörte.
Sie stellte die Lampe auf den Hocker, der ihr als Tisch diente, und zog sich den Sessel heran. Dabei verzog sie immer wieder vor Schmerz das Gesicht. Heute Abend steckte ihr die Feuchtigkeit in den Knochen, und alle Glieder taten ihr weh. Sie hatte keine große Lust zum Nähen, aber es gab nicht viel für sie zu tun, und bis zur Bettzeit war es noch fast eine Stunde hin. Rachel war fest entschlossen, an ihrem gewohnten Tagesablauf festzuhalten. Sie hatte immer zu denen gehört, die Sekunden vor dem Hornruf der Nachtposten aufwachten, der den Wechsel zur Morgenwache anzeigte. Jetzt freilich halfen ihr nur noch die morgendlichen Ausflüge nach oben, wenn sie aus dem Raum mit dem Außenfenster ihr Wasser holte, den Kontakt zur Außenwelt aufrechtzuerhalten. Sie wollte die zerbrechliche Verbindung zu ihrem alten Leben um keinen Preis verlieren, darum pflegte sie auch jeden Abend mindestens eine Stunde zu nähen, bevor sie sich gestattete, schlafen zu gehen, selbst wenn sie davon einen Krampf in den Fingern bekam.
Sie nahm ihr Messer und schnitt den Apfel in kleine Stücke. Obwohl sie vorsichtig aß, schmerzten danach Zähne und Gaumen, sodass sie den Brotkanten lieber in ihren Wasserbecher tunkte, ehe sie abbiss. Sie schnitt eine Grimasse, heute Abend tat einfach alles weh. Ganz bestimmt braute sich ein Unwetter zusammen, das spürte sie in den Knochen. In der letzten Woche hatte es nur wenige
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