Der Engelsturm
Tage gegeben, an denen sie oben aus dem Fenster das Sonnenlicht hatte sehen können, und nun wollte man ihr auch das noch nehmen.
Das Nähen fiel ihr heute schwer. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab. Eigentlich hätte das ihre Stiche kaum beeinträchtigt, heute aber führte es dazu, dass sie immer wieder für lange Augenblicke die Nadel ruhen ließ.
Wie hätten sich die Dinge wohl entwickelt, wenn Pryrates nicht gekommen wäre?
Vielleicht wäre Elias kein so großartiger König wie sein seliger Vater geworden, aber er war doch stark, klug und tüchtig. Vielleicht hätte er mit der Zeit sein ungehobeltes Wesen und die schlechte Gesellschaft abgelegt; die Burg wäre unter Rachels Aufsicht geblieben, mit langen Tafeln, schneeweiß von fleckenlosen Tischtüchern, mit sauber gefegten, blitzblank gescheuerten Steinfußböden. Die Kammerfrauen und Mägde würden fleißig arbeiten – unter ihrem strengem Blick arbeitet jeder fleißig. Nun ja, fast jeder …
Ach, Simon. Wenn der rote Priester nicht gekommen wäre und ihr Glück zerstört hätte, würde Simon noch hier sein. Vielleicht hätte er inzwischen eine Arbeit gefunden, die ihm gefiel. Er wäre größer – in diesem Alter wuchsen sie ja so entsetzlich schnell – und hätte sogar einen Bart, obwohl es Rachel schwerfiel, sich den kleinen Simon als Mann vorzustellen. Abends würde er sie dann manchmal besuchen, vielleicht sogar einen Becher Apfelwein mit ihr trinken und ein Schwätzchen halten. Sie würde ein scharfes Auge darauf haben, dass er nicht zu übermütig wurde und sich nicht für die falsche Sorte Mädchen zum Narren machte – schließlich hatte es keinen Sinn, einem Jungen wie ihm allzu viel Freiheit zu lassen …
Etwas Nasses tropfte auf ihre Hand. Rachel fuhr erschrocken auf.
Tränen? Weinst du, alte Närrin? Um dieses Mondkalb von einem Jungen? Sie schüttelte sich. Lass nur, er ist jetzt in besseren Händen als deinen, und keine Träne bringt ihn dir wieder.
Und doch wäre es schön gewesen zu sehen, wie er ein erwachsener Mann wurde … immer noch mit demselben kecken Grinsen …
Angewidert von ihrer eigenen Schwäche, legte Rachel ihre Näharbeit beiseite. Wenn sie sowieso nichts fertigbrachte, brauchtesie auch nichts vorzutäuschen, es war Zeitverschwendung. Sie würde sich eine andere Aufgabe suchen und nicht hier im Sessel hocken bleiben, Trübsal blasen und vor sich hinträumen wie eine Greisin am warmen Herd. Sie war noch nicht tot. Es gab noch Arbeit für sie.
Jemand brauchte sie. Langsam wanderte sie in der kleinen Kammer auf und ab und kümmerte sich dabei nicht um das dumpfePochen in ihren Gelenken. Sie beschloss, sich doch nach Graf Guthwulf umzusehen. Zwar würde sie vorsichtig sein und nach Möglichkeit auf ihre Sicherheit achten, aber es war ihre ädonitische Pflicht, herauszufinden, ob der arme Mann irgendwo verletzt oder krank darniederlag.
Rachel der Drache begann Pläne zu schmieden.
Ein dichter Regenvorhang fegte über die Begräbnisstätte, legte das kniehohe Gras nieder und prasselte auf die alten, umgestürzten Steine.
»Hast du etwas gefunden?«, fragte Miriamel.
»Nichts von Erfreulichkeit.« Der Regen rauschte so, dass sie den Troll kaum hören konnte. Sie beugte sich näher zur Tür der Gruft. »Keinen Tunnel finde ich hier«, erläuterte Binabik.
»Dann komm heraus. Ich bin klatschnass.« Sie zog den Mantel eng um sich und hob den Kopf.
Hinter der Begräbnisstätte ragte der Hochhorst auf, und seine Turmspitzen bohrten sich düster in den trüben, grauen Himmel. In den roten Fenstern des Hjeldinturms glomm Licht. Miriamel duckte sich tiefer ins Gras, wie ein Kaninchen vor dem Schatten des Habichts. Die Burg schien ruhig, fast wie ausgestorben. Auf den Zinnen standen keine Soldaten, von den Dächern flatterten keine Banner. Nur der Engelsturm mit seinem zum Himmel aufstrebenden, weißen Stein wirkte irgendwie lebendig. Sie dachte daran, wie sie sich einst dort versteckt und heimlich Simon beobachtet hatte, der in der Glockenstube manchen müßigen Nachmittag verträumte. So beengend der Hochhorst ihr damals auch vorgekommen war, es war ein vergleichsweise heiterer Ort gewesen. Jetzt wartete die Burg auf etwas, lauerte wie ein uraltes, hartschaliges Tier, eine alte Spinne, brütend im Mittelpunkt ihres Netzes.
Schaffe ich es wirklich, dorthin zu gehen? , fragte sie sich. Vielleicht hat Binabik ja recht. Vielleicht ist es bloße Sturheit, daran zu glauben, ich könnte irgendetwas ausrichten.
Aber der
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