Der Engelsturm
Dunkel wie Stoffbänder im Wind. Wände wölbten sich nach oben und entfalteten sich dort zu auffälligen, fächerförmigen Gebilden aus vielfarbig sich verjüngendem Gestein oder sie liefen in welligen Falten wieder nach unten. Alle Flächen waren von gemeißelten Tieren oder Pflanzen belebt. Die Erbauer dieses Ortes schienen den Stein dehnen zu können wie heißen, geschmolzenen Zucker. Er musste wie Wachs in ihren Händen gewesen sein.
Von Raum zu Raum liefen entlang der Ränder der geborstenen Steinböden Rinnen, die unverkennbar Bachläufe gewesen waren, auch wenn sie jetzt nur pudrigen Staub enthielten. Kleine, verzierte Brücken überquerten sie. Von den aus Stein geschnitzten Ranken und Blüten, die wie Girlanden die Decke umkränzten, wuchsen gewaltige Leuchter herunter, die wie phantastische, unwirkliche Blumen geformt waren. Wie gern hätte Miriamel sie in hellem Licht erstrahlen sehen. Den Farbspuren nach zu urteilen, die sich in den Ritzen der Steine noch gehalten hatten, war der Palast ein kaum vorstellbarer Garten voller Farben und Lichterglanz gewesen.
Doch obwohl ein zerstörter Raum nach dem anderen ihre Augen blendete, war auch etwas an diesen endlosen Hallen, das ihr Schauer über den Rücken jagte. Denn bei all ihrer Schönheit waren sie doch unzweifelhaft für Bewohner erbaut, die mit anderen Augen sahen als Sterbliche: Die Winkel waren fremdartig, die Aufteilung beunruhigend. Einige hochgewölbte Säle erschienen für ihre Einrichtung und Ausstattung viel zu riesig, während andere Räume fast furchterregend eng wirkten, so mit Zierrat überwuchert und vollgestopft, dass man sich kaum vorstellen konnte, wie sich mehr als eine Person gleichzeitig darin aufhalten konnte. Noch viel sonderbarer aber war, dass die Ruinen der Sithiburg nicht völlig ausgestorben zu sein schienen. Neben den leisen Tönen, die Stimmen sein konnten, und dem merkwürdigen Luftzug an einem Ort, an dem es eigentlich keinen Wind geben konnte, fiel Miriamel überall ein flüchtiger Schimmer auf, eine Andeutung unbestimmter Bewegungen im Augenwinkel, als sei alles um sie herum nicht ganz wirklich. Sie hatte das Gefühl, dass sie nur zu blinzeln brauchte und Asu’a würde wieder sein wie einst.«
»Was ist es, was du da sagst?«, fragte Binabik.
Sie hatten ihre Mahlzeit beendet und waren weitergegangen. Sie trugen ihre Reisesäcke eine lange, hohe Galerie hinunter und überquerten dann eine schmale Brücke, die sich ihren Weg durch eine weite Leere bahnte wie der Flug eines Pfeils. Das Licht der Fackel erhellte den schwarzen Abgrund nicht.
Miriamel sah verlegen auf. »Ich weiß nicht genau. Ich sagte ›Gott ist nicht hier‹.«
»Diese Stätte missfällt dir?« Binabik zeigte ein schmales, gelbes Lächeln. »Auch ich habe Furcht vor diesen Schatten.«
»Nein – ich meine, ja, ich habe Angst. Aber das wollte ich damit nicht sagen.« Sie hielt ihre Fackel hoch und beleuchtete einen gemeißelten Fries auf der Wand jenseits des Abgrunds. »Die Wesen, die hier lebten, hatten keinerlei Ähnlichkeit mit uns. Sie kannten uns gar nicht. Es ist schwer zu glauben, dass das dieselbe Welt ist wie meine. Man hat mir beigebracht, Gott sei überall und wache über alles.« Sie schüttelte den Kopf. »Es ist schwer zu erklären. Mir kommt es vor, als liege dieser Ort außerhalb von Gottes Reichweite. So, als ob er Gott nicht sieht und Gott ihn darum auch nicht sehen kann.«
»Und macht dich das noch furchtsamer?«
»Ich denke schon. Es kommt mir jedenfalls so vor, als hätte das, was hier vorgeht, nicht viel mit dem zu tun, was man mich gelehrt hat.«
Binabik nickte ernst. Im gelben Schein der Fackel hatte er weniger Ähnlichkeit mit einem Kind als sonst. Umrahmt von Schatten wirkte das runde Gesicht fast feierlich. »Und doch würden manche sagen, dass alles, was jetzt geschieht, genau dem entspricht, was eure Kirche verkündet – eine Schlacht zwischen den Heeren von Gut und Böse.«
»Ja, aber so einfach kann es nicht sein«, versetzte Miriamel eifrig. »Ineluki – war er gut? Böse? Er wollte nur das Rechte für sein Volk. Ich bin mir eben nicht mehr sicher.«
Binabik schwieg ein Weilchen und streckte dann eine kleine Hand nach ihrer aus. »Deine Fragen sind Fragen der Vernunft. Ich glaube nicht, dass wir … ihn … hassen sollten … unseren Feind. Dennoch, bitte, nenne ihn nicht beim Namen!« Er drückte ihre Finger, um seine Worte zu unterstreichen. »Und sei ganz sicher in einem: Was immer er einst gewesen sein mag,
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