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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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heute ist er viel, viel gefährlicher als alles,das du weißt oder dir ausdenken kannst. Vergiss das nie. Er wird uns und alle, die wir lieben, töten, wenn seine Wünsche sich erfüllen. Davon besitze ich Gewissheit.«
    Und mein Vater? , dachte Miriamel. Ist er jetzt auch nur noch ein Feind? Was ist, wenn ich den Weg zu ihm finde und von dem, den ich geliebt habe, nichts mehr übrig ist? Das wird sein, als stürbe ich. Dann wird mir gleichgültig sein, was mit mir geschieht.
    In diesem Moment begriff sie. Es stimmte nicht, dass Gott sie nicht sah. Aber es gab niemanden mehr, der ihr sagte, was richtig und was falsch war. Sie konnte sich nicht einmal mehr damit trösten, dass sie etwas deshalb tat, weil man es ihr verboten hatte. Alle Entscheidungen gehörten ihr ganz allein und sie würde die Folgen tragen müssen.
    Sie hielt Binabiks Hand noch einen Augenblick fest, bevor sie weitergingen. Wenigstens war ein Freund bei ihr. Wie musste es einem zumute sein, wenn man an einem solchen Ort allein war?
     
    Nachdem sie dreimal in den Ruinen von Asu’a geschlafen hatten, fesselte selbst seine bröckelnde Pracht Miriamels Aufmerksamkeit nicht mehr. Die dunklen Hallen schienen Erinnerungen wachzurufen – unwichtige Bilder aus ihrer Kindheit in Meremund, den Tagen ihrer Gefangenschaft auf dem Hochhorst. Ihr war, als schwebte sie zwischen der Vergangenheit der Sithi und ihrer eigenen.
    Sie fanden eine breite Treppe, die aufwärtsführte, mit vielen staubigen Stufen und einem Geländer in Form einer Rosenhecke. Als Binabiks Prüfung der Karte zu ergeben schien, dass die Treppe Bestandteil ihrer Route war, fühlte sich Miriamel geradezu glücklich. Nach so langer Zeit in der Tiefe führte der Weg endlich wieder nach oben!
    Aber nachdem sie über eine Stunde die scheinbar endlosen Stufen hinaufgekeucht waren, legte sich ihre Begeisterung, und ihre Gedanken begannen von neuem abzuschweifen.
    Simon ist fort, und ich habe nie wirklich mit ihm geredet. Habe ich ihn geliebt? Es wäre ja doch nie etwas daraus geworden – wie konnte er mich noch mögen, nachdem ich ihm von Aspitis erzählt hatte? Aber vielleicht hätten wir Freunde sein können. Habe ich ihn geliebt?
    Sie sah hinab auf ihre Stiefel, unter ihr rauschten die Stufen dahin wie ein behäbiger Wasserfall.
    Sinnlos, sich jetzt den Kopf darüber zu zerbrechen … aber vermutlich habe ich ihn geliebt. Bei dem Gedanken fühlte sie, wie sich etwas Gewaltiges und Formloses in ihr regte, ein Kummer, der in Irrsinn umzuschlagen drohte. Voller Angst vor seiner Gewalt zwang sie ihn nieder. O Gott, ist das der Lauf der Dinge? Etwas Kostbares zu besitzen und es erst dann zu begreifen, wenn es zu spät ist?
    Fast wäre sie über Binabik gestolpert, der zwei Stufen weiter oben plötzlich stehen geblieben war, den Kopf fast in gleicher Höhe mit ihrem. Der Troll legte den Finger auf den Mund, damit sie schwieg.
    Kurz vorher hatten sie einen Treppenabsatz passiert, von dem mehrere Bogengänge fortführten, und Miriamel dachte zuerst, das Geräusch müsse aus einem von ihnen kommen. Aber Binabik deutete nach oben. Jemand befand sich auf der Treppe.
    Miriamels nachdenkliche Stimmung verflog. Wer konnte in diesen ausgestorbenen Hallen herumlaufen? Simon? Das schien zu viel erhofft. Aber wer sonst durchstreifte die Schattenwelt? Die ruhelosen Toten?
    Während sie sich wieder auf den Treppenabsatz zurückzogen, schraubte Binabik seinen Wanderstab auseinander und zog den Einsatz mit der Messerklinge heraus. Die Schritte wurden lauter, und auch Miriamel griff nach ihrem Messer. Binabik streifte den Reisesack von den Schultern und ließ ihn lautlos neben Miriamels Füßen zu Boden gleiten.
    Eine Gestalt kam die düstere Treppe hinunter und trat langsam und ohne jedes Zögern in den Schein ihrer Fackel. Miriamels Herz hämmerte gegen ihre Rippen. Es war ein Mann, den sie noch nie gesehen hatte. Die hervorquellenden Augen in der Tiefe seiner Kapuze schienen Überraschung oder Furcht auszudrücken, aber er fletschte mit wunderlichem Grinsen die Zähne.
    Eine Sekunde verging, bevor Binabik, der vor Verblüffung nach Luft schnappte, ihn erkannte. »Hängfisch!«
    »Du kennst ihn?« Ihre Stimme klang ihr schrill, das unsichere Stammeln eines erschrockenen kleinen Mädchens.
    Der Troll hielt das Messer vor sich wie ein Priester einen heiligen Baum. »Was willst du hier, Rimmersmann?«, fragte er. »Hast du dich verirrt?«
    Der lächelnde Ankömmling antwortete nicht, sondern breitete die Arme aus und

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