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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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stieg eine weitere Stufe hinunter. Irgendetwas Schreckliches war mit ihm nicht in Ordnung.
    »Geh weg!«, schrie Miriamel ihn an und wich unwillkürlich einen Schritt zurück, auf einen der Türbögen zu. »Binabik! Wer ist das?«
    »Ich weiß, wer er war«, erwiderte der Troll, noch immer mit gezücktem Messer. »Aber mich dünkt, er ist zu etwas anderem geworden …«
    Noch ehe er ausgeredet hatte, setzte der Glotzäugige sich in Bewegung und lief mit erschreckender Schnelligkeit die restlichen Stufen hinunter. Einen Herzschlag später stand er vor dem Troll, packte die Hand mit dem Messer am Gelenk und umklammerte den kleinen Mann mit dem anderen Arm. Sie rangen miteinander, fielen hin und rollten vom Treppenabsatz auf die tieferliegenden Stufen. Binabiks Fackel wurde ihm aus der Hand gerissen und sprang vor ihnen die Treppe hinab. Der Troll keuchte und stöhnte vor Schmerz, der andere gab keinen Laut von sich.
    Miriamel blieb kaum eine Sekunde, mit aufgerissenen Augen auf dieses Schauspiel zu starren, als plötzlich viele lange Finger aus dem finsteren Bogengang hervorschossen und sie packten. Sie hielten ihre Hände fest und schlangen sich um ihre Mitte. Die Finger waren rauh, aber dort, wo sie ihre Haut berührten, eigentümlich behutsam. Auch ihre Fackel fiel zu Boden. Noch bevor sie Atem holen und einen Warnruf ausstoßen konnte, wurde ihr etwas über den Kopf gestülpt. Das Licht verschwand. Ein süßlicher Geruch drang ihr in die Nase, und sie merkte, wie sie ohnmächtig wurde. Sie glitt zu Boden und die Welt löste sich auf.

    »Warum willst du dich nicht zu mir setzen?«, fragte Nessalanta. Sie hörte sich an wie ein verzogenes Kind, dem man eine Leckerei verweigert. »Ich habe seit Tagen kein Wort mit dir wechseln können.«
    Benigaris, der am Geländer des Dachgartens stand, drehte sichum. Unter ihm in der Stadt zündete man die ersten Abendfeuer an. Nabban funkelte in lavendelblauer Dämmerung. »Ich war beschäftigt, Mutter. Vielleicht ist es Eurer Aufmerksamkeit entgangen, dass wir einen Krieg führen.«
    »Wir haben schon öfters Krieg geführt«, entgegnete Nessalanta sorglos. »Barmherziger Gott, diese Dinge ändern sich nie, Benigaris. Du wolltest doch unbedingt herrschen. Nun musst du auch erwachsen werden und die Lasten auf dich nehmen, die damit verbunden sind.«
    »Erwachsen, wie?« Benigaris ballte die Fäuste und trat vom Geländer zurück. »Ihr seid das Kind, Mutter. Merkt Ihr denn nicht, was geschieht? Vor einer Woche haben wir den Onestrinischen Pass verloren. Heute wurde mir gemeldet, dass Aspitis Preves geflohen und die Provinz Eadne gefallen ist. Verdammt! Wir sind kurz davor, diesen Krieg zu verlieren! Wäre ich doch nur selbst ins Feld gezogen, statt diesen Schwachkopf auszuschicken … meinen geliebten Bruder …«
    »Kein Wort gegen Varellan!«, fauchte Nessalanta. »Ist es seine Schuld, dass dein Heer aus dummen Bauern bestand, die an Gespenster glauben?«
    Benigaris sah sie lange an. Es lag nichts Liebevolles in seinem Blick.
    »Es ist Camaris«, erklärte er ruhig.
    »Wie?«
    »Unser Gegner ist Camaris, Mutter. Ihr könnt sagen, was Ihr wollt, aber ich habe die Berichte der Männer gehört, die an der Schlacht teilgenommen haben. Und wenn er es nicht ist, dann ist es einer der alten Kriegsgötter unserer Vorfahren, der auf die Erde zurückgekehrt ist.«
    »Camaris ist tot«, sagte Nessalanta irritiert.
    »Vielleicht ist er der Falle entgangen, die Ihr ihm gestellt habt.« Benigaris trat ein paar Schritte näher. »Wurde mein Vater deshalb Herzog von Nabban – weil Ihr dafür sorgtet, dass Camaris beseitigt wurde? Falls ja, habt Ihr versagt. Vielleicht wähltet Ihr ausnahmsweise das falsche Werkzeug.«
    »Es gibt kein Werkzeug in diesem Land, das sich meinem Willenwidersetzen könnte«, zischte die Herzoginwitwe mit wutverzerrtem Gesicht. »Sie alle sind schwach und stumpf. Gesegneter Erlöser, wäre ich doch ein Mann! Dann wäre das alles nicht geschehen. Nie würden wir das Haupt vor einem Nordkönig beugen, der auf einem Knochenthron hockt.«
    »Verschont mich mit Euren größenwahnsinnigen Träumen, Mutter. Was habt Ihr Camaris angetan? Was immer es war, er scheint es überlebt zu haben.«
    »Ich habe Camaris nichts angetan.« Die Herzoginwitwe ordnete ihre Röcke und fand etwas von ihrem Gleichmut wieder. »Ich gebe zu, dass ich nicht unglücklich war, als er ins Meer fiel – für einen starken Mann war er der Schwächste von allen. Völlig ungeeignet zum Regieren. Aber

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