Der Engelsturm
des Herzogs lag noch immer kameradschaftlich auf den Schultern des Astrologen. »Aber ich sorge mich um dich, Xannasavin.«
»Mein Herr ist zu gütig, in dieser Zeit der Prüfung einen Gedanken an mich zu verschwenden. Was ist es, das Euch Sorge bereitet, Herzog?«
»Ich fürchte, du hast zu viel Zeit damit verbracht, in den Himmel zu schauen. Du solltest deinen Horizont erweitern und auch auf die Erde hinuntersehen.« Er deutete auf die Laternen, die unten in den Straßen brannten. »Wenn man zu lange auf einen bestimmten Punkt schaut, verliert man andere Dinge aus den Augen, die ebenso wichtig sind. Zum Beispiel, Xannasavin, haben dir die Sterne verraten,dass dem benidrivinischen Haus großer Ruhm zuteil werden wird – aber du hast darüber das Marktgeschwätz außer Acht gelassen, dass Herr Camaris selbst, der Bruder meines Vaters, die Heere gegen Nabban führt. Oder hast du vielleicht doch darauf gehört und dich darum so plötzlich entschlossen, ein Pferd zu kaufen, hm?«
»M-mein Herr t-tut m-mir unrecht.«
»Denn natürlich ist Camaris der älteste Erbe des benidrivinischen Hauses, und der Ruhm, von dem du sprachst, könnte ebenso gut seinen Sieg bedeuten, nicht wahr?«
»Ach nein, Herr, das glaube ich gewiss nicht.«
»Hör auf, Benigaris«, fuhr jetzt Nessalanta dazwischen. »Hör auf, den armen Xannasavin zu quälen. Setzt euch beide zu mir, wir trinken ein Glas Wein.«
»Ich will ihm ja nur helfen, Mutter.« Benigaris wandte sich wieder dem Sterndeuter zu. Der Herzog lächelte, aber sein Gesicht war gerötet, und auf den Wangen standen dunkle Flecke. »Wie gesagt – ich finde, du hast zu viel Zeit damit vergeudet, den Himmel zu betrachten, und dich zu wenig um irdische Dinge gekümmert.«
»Herr …«
»Aber das lässt sich ändern.« Er bückte sich rasch, ließ seinen Arm bis auf Xannasavins Hüften hinabgleiten und umschlang ihn mit dem anderen Arm. Stöhnend vor Anstrengung richtete er sich auf. Der Astrologe hing in der Luft, die Füße eine Elle über dem Boden.
»Nein, Herzog Benigaris, nicht!«
»Hör auf«, kreischte Nessalanta.
»Geh zur Hölle«, sagte der Herzog und kippte den Sterndeuter über das Geländer. Xannasavin griff mit den Armen ins Leere und stürzte ins Dunkel. Einen langen Augenblick später vernahm man vom Hof her ein feuchtes Aufklatschen.
»Wie kannst du … wie kannst du es wagen …?«, stammelte Nessalanta mit schreckgeweiteten Augen. Benigaris stapfte drohend auf sie zu, das Gesicht entstellt vor Zorn. Ein dünner Blutstrom tröpfelte von seiner Stirn; der Sterndeuter hatte ihm ein Büschel Haare ausgerissen.
»Halt den Mund!«, fuhr er seine Mutter an. »Ich sollte dich gleichhinterherwerfen, alte Wölfin! Wir sind dabei, diesen Krieg zu verlieren – verlieren, hörst du? Mag sein, dass dir das im Augenblick gleichgültig ist, aber du lebst hier nicht so sicher, wie du glaubst. Ich bezweifle zwar, dass dieser blässliche Josua seinem Heer gestatten wird, Frauen zu schänden und Gefangene abzuschlachten, aber die Leute, die auf dem Markt darüber klatschen, wie mein Vater umgekommen ist, wissen sehr gut, dass du daran genauso viel Schuld trägst wie ich.« Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht. »Nein, ich brauche dich nicht selber umzubringen. Wahrscheinlich wetzt schon ein Haufen Bauern die Messer und wartet nur darauf, dass Camaris und seine Männer vor den Toren stehen, um mit dem Schlachtfest anzufangen.«
Er lachte boshaft. »Meinst du, die Palastwache opfert ihr Leben für deines, wenn alles verloren ist? Sie sind nicht anders als die Bauern, Mutter. Sie führen ihr eigenes Leben, und wer hier auf dem Thron sitzt, ist ihnen gänzlich gleich. Alte Närrin!« Er starrte sie mit bebenden Lippen und zuckenden Fäusten an.
Die Herzoginwitwe presste sich in den Sessel. »Was hast du vor?«, stöhnte sie.
Benigaris warf die Arme in die Luft. »Ich? Kämpfen, verdammte Hexe! Ich mag ein Mörder sein, aber was ich habe, das behalte ich auch – bis sie es mir aus der toten Hand nehmen.« Er stampfte zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um.
»Und dich, Mutter, will ich nie wiedersehen. Es kümmert mich nicht, wohin du gehst oder was du tust – nur komm mir nicht mehr unter die Augen.«
Er stieß die Tür auf und verschwand.
»Benigaris!« Nessalantas Stimme steigerte sich zum Kreischen. »Benigaris! Komm zurück!«
Der schweigende Mönch hielt Binabik mit der einen Hand die Kehle zu und drückte. Gleichzeitig zwang er mit der anderen Hand die
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