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Der Engelsturm

Der Engelsturm

Titel: Der Engelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tad Williams
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Danke.«
    Wieder trat Schweigen ein. Etwas später drangen leise Töne an Simons Ohr, ruhig und melodisch. Er zuckte zusammen, bevor er begriff, dass es Miriamel war, die sacht vor sich hinsummte.
    »Was ist das für ein Lied?«
    Sie drehte sich zu ihm um. »Wie bitte?«
    »Dieses Lied, das Ihr da summt?«
    Sie lächelte. »Ich habe gar nicht gemerkt, dass ich es gesummt habe. Es geht mir schon den ganzen Abend im Kopf herum. Meine Mutter hat es mir vorgesungen, als ich noch klein war. Ich glaube, es ist ein Lied aus Hernystir, das von meiner Großmutter stammt; aber die Worte sind in Westerling.«
    Simon ging zu seinen Decken. »Wollt Ihr es mir vorsingen?«
    Miriamel zögerte. »Ich weiß nicht recht. Ich bin müde und weiß auch vielleicht die Worte nicht mehr genau. Außerdem ist es ein trauriges Lied.«
    Simon legte sich hin und deckte sich mit dem Mantel zu. Ihn fror auf einmal. Die Nacht begann kalt zu werden. Ein leichter Wind bewegte die Blätter. »Es macht nichts, wenn die Worte nicht richtig sind. Es wäre nur schön, ein Lied zu hören.«
    »Also gut. Ich werde es versuchen.« Sie überlegte einen Augenblick und fing dann an zu singen. Ihre Stimme klang ein wenig rauh, aber lieblich. Obwohl sie nur leise sang, füllte die getragene Weise die dunkle Waldlichtung.
     
    In Cathyn Dair ein Mädchen war,
    dort, wo das Meer dem Silber glich,
    das schönste Mädchen weit und breit,
    ich liebte sie, sie liebte mich.
     
    Am Silbermeer der Wind weht kalt,
    das Gras ist lang, die Steine alt.
    Dort hält man Liebe feil für Geld,
    verkauft sein Herz ganz unverstellt
    und sagt: So geht es in der Welt,
    die bitter ist und tränenschwer
    und grausam kalt in Cathyn Dair.
     
    Wir trafen uns im Herbstmondschein,
    dort, wo das Meer dem Silber glich,
    im Silberkleid, mit goldnen Schuhn,
    hat sie getanzt, gelacht für mich.
     
    Als Wintereis das Dach bedeckt,
    dort, wo das Meer dem Silber glich,
    da sangen wir am Feuer nachts.
    Sie lächelte und küsste mich.
     
    Am Silbermeer der Wind weht kalt,
    das Gras ist lang, die Steine alt.
    Dort hält man Liebe feil für Geld,
    verkauft sein Herz ganz unverstellt
    und sagt: So geht es in der Welt,
    die bitter ist und tränenschwer
    und grausam kalt in Cathyn Dair.
     
    Als Frühling in den Feldern träumt,
    dort, wo das Meer dem Silber glich,
    stand sie in Mirchas Heiligtum
    mit mir und schwor: Getreu bin ich.
     
    Als Sommer auf den Hügeln brannt’,
    dort, wo das Meer dem Silber glich,
    da bot man uns zur Hochzeit auf.
    Jedoch vergeblich harrte ich.
     
    Am Silbermeer der Wind weht kalt,
    das Gras ist lang, die Steine alt.
    Dort hält man Liebe feil für Geld,
    verkauft sein Herz ganz unverstellt
    und sagt: So geht es in der Welt,
    die bitter ist und tränenschwer
    und grausam kalt in Cathyn Dair.
    Und wieder schien der Mond im Herbst,
    dort, wo das Meer dem Silber glich,
    da tanzte sie im Silberkleid
    für einen andern, nicht für mich.
     
    Doch als der neue Winter kam,
    dort, wo das Meer dem Silber glich,
    da ging ich fort aus Cathyn Dair,
    und seiner Qualen lachte ich.
     
    Am Silbermeer der Wind weht kalt,
    das Gras ist lang, die Steine alt.
    Dort hält man Liebe feil für Geld,
    verkauft sein Herz ganz unverstellt
    und sagt: So geht es in der Welt,
    die bitter ist und tränenschwer
    und grausam kalt in Cathyn Dair…
     
    »Das ist ein schönes Lied«, meinte Simon, als sie geendet hatte. »Ein trauriges Lied.« Die einprägsame Melodie wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen, und er verstand, warum Miriamel sie unbewusst vor sich hingesummt hatte.
    »Meine Mutter hat es mir oft vorgesungen, im Garten von Meremund. Sie sang überhaupt viel. Alle Leute sagen, sie hätte eine wunderschöne Stimme gehabt.«
    Wieder herrschte eine Zeitlang Stille. In ihre Mäntel gewickelt, lagen die beiden da und hingen ihren eigenen Gedanken nach.
    »Ich habe meine Mutter nie gesehen«, sagte Simon endlich. »Sie starb bei meiner Geburt. Ich habe meine beiden Eltern nicht gekannt.«
    »Ich auch nicht.«
    Bis Simon auffiel, wie sonderbar diese Bemerkung war, hatte sich Miriamel schon umgedreht und dem Feuer – und ihm – den Rücken gekehrt. Er hätte sie gern gefragt, was sie damit meinte, spürte aber, dass sie nicht mehr reden wollte.
    So sah er zu, wie das Feuer herunterbrannte und die letzten Funken nach oben ins Dunkel schwebten.

3
Fenster wie Augen

    ie Widder standen so eng zusammen, dass Binabik kaum hindurchkam. Er sang ein leises Lied, mit dem man Schafe beruhigt, während er

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